Der Volksfeind
Es ist eine typische Situation, die wohl in jeder – auch undemokratischen – Kleinstadt vorstellbar ist. Ein Geschwisterpaar ist in führenden Gemeindefunktionen, die Schwester ist Bürgermeisterin, der Bruder leitender Arzt der städtischen Kuranstalt. Dieser untersucht das Thermalwasser und stellt fest, dass es mit krankheiterregenden Keimen verunreinigt ist. Er fühlt sich Wahrheit und Wissenschaft verpflichtet, schreibt einen Bericht und will die Allgemeinheit darüber informieren.
Seine Schwester ist pragmatische Politikerin, die den Ruin der Stadt voraussieht, sollte die Verunreinigung des Thermalwassers ans Licht kommen. Die Kuranstalt ist die wichtigste Säule der lokalen Wirtschaft. Sie fühlt sich dem ökonomischen Überleben der Gemeinde verpflichtet und setzt alle Hebel in Bewegung, ihren Bruder mundtot zu machen. Es entfacht ein theatralisch verstärkter Geschwisterkonflikt, der wohl von Ibsen beabsichtigt, den ewigen Kampf innerhalb des Menschengeschlechts widerspiegelt: homo homini lupus.
Der Arzt, Dr. Stockmann, geht seinen Weg der Wahrheit anfänglich selbstsicher und mit der Unterstützung seiner Tochter Petra, die in der Neuinszenierung als jugendliche Vertreterin der Fridays for Future oder der Letzten Generation zu sehen ist. Ihr Vater sucht im Redakteur der lokalen Zeitung und einem regionalen Verleger Verbündete, um der Wahrheit zum Erfolg zu verhelfen. In der Einflussnahme auf die Medienvertreter entscheidet sich im Stück der Kampf zwischen Bruder und Schwester.
Die Bürgermeisterin lenkt geschickt die Aufmerksamkeit von Redakteur und Verleger auf die unmittelbare wirtschaftliche Bedrohung durch das Ausbleiben der Kurgäste und schiebt dadurch die Bedenken hinsichtlich der Thermalwasserverunreinigung in weite Ferne. Der Kämpfer im Dienste von Wahrheit und Wissenschaft wird in weniger als einer Stunde diffamiert und zum egoistischen Volksfeind erklärt, dem die abstrakte Wahrheit wichtiger ist als das Wohl der Gemeinschaft.
Ähnliche „plots“ kennen wir hierzulande durch die Piefkesaga[i] und die jüngste mediale Diskussion um die Millioneninvestitionen im Skitourismus[ii], der immer deutlicher langfristige ökologische Notwendigkeiten kurzfristigen ökonomischen Interessen opfert. Aber auch global betrachtet, hat vor allem die Ausnahmesituation Covid-19 gezeigt, wie wenig die gesellschaftlichen Entscheidungsträger den Zusammenhang zwischen der Pandemie, notwendiger wirtschaftlicher Transformation und Klimakrise verstanden haben. So wie in Ibsens Theaterstück droht uns als „globales Dorf“ die sechste Artenvernichtung, aber wir treffen kurzfristige Entscheidungen entlang überholter wirtschaftlicher Paradigmen.
Die Publikumsdiskussion
In der an die Aufführung unmittelbar anschließenden Publikumsdiskussion, zu der etwa 30 Gäste und das Theaterensemble samt Dramaturgin erscheinen, spiegeln sich Kernaussagen des Stückes wider. Fragen zur Mündigkeit der Mehrheit, zur demokratischen Meinungsfindung und dem Zweck der Wahrheit werden in den Wortmeldungen der Teilnehmer regelrecht parodiert. Ein älteres Paar der offensichtlich gehobenen sozialen Schicht begnügt sich damit, die Schauspieler zu loben und vergisst darüber hinweg auf den Inhalt einzugehen. Ein Gelehrter wirft mit Zahlen und Statistiken um sich und prophezeit drei Jugendlichen der Friday for Future Bewegung, dass bald eine Lösung zur Klimakrise gefunden werde. Die Jugendlichen kontern mit anderen Zahlen, und wirken wie ahnungslose Söldner eines Krieges, der von anderen angezettelt wurde. Es herrscht wie in der Demokratie üblich Uneinigkeit. Es mangelt an einem gemeinsamen Ziel, und noch viel mehr: einem gemeinsamen Weg dorthin.
Ist das Volk unfähig zu regieren? Ist die Demokratie ebenso wie der Kommunismus eine hehre Illusion, die sich Intellektuelle mangels Menschenkenntnis auserdacht haben? Ist die Demokratie nichtsdestotrotz das kleinste Übel unter allen Regierungsformen, wie Winston Churchill einst berühmt sagte? Müssen die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden Mechanismen der Demokratie generalüberholt werden, um jene Entscheidungen zu treffen, die uns derzeit notwendige Lösungen finden lassen? Oder ist der Mensch evolutionäre Ausschussware?
Was bewegt die “Letzte Generation“?
Ähnlich wie die drei Mitglieder der lokalen Friday for Future Bewegung in der Volksfeind-Publikumsdiskussion, haben die Journalisten Anna Mayr und Bernd Ulrich im Magazin der Zeit vom 16.2[i] drei Protagonisten der Letzten Generation zum Gespräch oder sollte ich eher sagen zum Verhör gebeten. Der raue Unterton ist mir als erstes aufgefallen: will man hier Systemgegner (sprich Volksfeinde?) verurteilen oder in einem freundlichen Gespräch die Motivation von jungen Menschen hinterfragen, ihr Leben in den Dienst einer notwendigen Systemveränderung zu stellen?
Dieses Interview im Magazin der Zeit zu finden ist an sich schon etwas eigenartig. Eingebettet zwischen ganzseitigen Werbeeinschaltungen zu Luxusuhren, Luxustaschen, Trendberichten über Beanie-Mützen, findet man elf (!) Seiten mit stilisierten Schwarzweißaufnahmen von der 20 jährigen Carla Rochel, dem 38 jährigen Raul Semmler und der 23 jährigen Aimee van Baalen, drei zentralen Figuren der deutschen Bewegung, die bereits über 1000 Mitglieder zählen soll. In der Ausgabe der darauffolgenden Woche wird anstatt der Letzten Generation die italienische Rockband Maneskin gefeatured. Nur damit wir wissen, mit wem wir es hier in punkto Status zu tun haben. Askese trifft auf Extravaganz und Völlerei.
Sie sind also Stars einer Gesellschaft - oder soll man sie Anti-Stars nennen - die mit sich selbst nicht mehr im Reinen ist. Ansonsten würden sie in der großformatigen Zeit im Feuilleton oder im Dossier ihre Antworten zu ontologischen, aus einem Milan Kundera Roman stammenden, Fragen wie dieser geben: Wann haben sie ihre Leichtigkeit verloren? Gemeint ist: wann mussten die Mitglieder der letzten Generation ihre Kindheit aufgrund der bedrückenden Realität einer nicht abzuwendenden Klimakrise aufgeben? Es werden junge Menschen interviewt, die schlicht erkannt haben, dass wir nicht so weitergehen kann wie bisher. Menschen, denen ihr ruhiges Leben genommen wurde, denen die Auseinandersetzung mit der Realität keine andere Wahl ließ.
Zeitgeist Klimakrise. Es ist aus mit den „goldenen Jahren“, mit dem Frieden, mit unreflektiertem Wachstum. Es ist Schluss mit lustig. Das Resultat sind Jugendliche und junge Erwachsene, die keine Perspektive mehr haben, die anstatt innerhalb des herrschenden Systems ihren Platz zu suchen, dieses offen angreifen und sabotieren. Sind diese Menschen anders als islamische Fundamentalisten oder reaktionäre Neonazis? Was haben sie mit anderen Randgruppen gemeinsam, was unterscheidet sie von diesen?
Ich mußte mich beim Lesen des Interviews mehrmals an Weltentwerfen erinnern, einem Buch des Hamburger Designers Friedrich von Boerries[i]: „Wir haben Strukturen überwunden, die nicht effektiv sind”, sagt Van der Baalen. Welche Strukturen meint sie damit? Jene hochgeschätzten aber nicht mehr funktionierenden Strukturen der westlichen Demokratie? Warum funktionieren diese Strukturen nicht mehr? Oft habe ich in den letzten Jahren die Demokratie als ein System kritisiert, das Demokraten an Verfassungen hängen läßt, ähnlich wie Bibelchristen jedes Wort eines vor 2000 und mehr Jahren geschriebenen Buches in der Gegenwart leben wollen.
Die Demokratie stammt aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit in der Innovationen zwischen 20 und 50 Jahren brauchten, um aus der Taufe gehoben zu werden. Eine Zeit in der wenige als eine Milliarde Menschen auf der Erde lebten und einen Bruchteil der acht Millarden heute lebenden Konsumenten verbrauchten. Innovationszyklen haben sich in vielen Industrien auf sechs Monate reduziert und damit der output an neuen Produkten – egal ob für die Gesellschaft oder den Planeten von Vor- oder Nachteil – exponentiell beschleunigt. Ein Beispiel das mir ad hoc einfällt, ist der durch einen vorübergehenden data-goldrush angetriebene Erfolg von Mietfahrrädern in China, der bis in den Westen schwappte, und erst nach einer gigantischen Vergeudung von Rohstoffen, Arbeitskraft und Finanzmitteln, auf der Halde endete.
Xiamen, China, 2017. Halde von falsch geparkten Mietfahrrädern.
Können wir uns als Menschheit – auf einem Planeten, der endliche Mittel zur Verfügung stellt – derartige Verfehlungen noch leisten? Natürlich nicht, aber die Systeme, die diesen Verfehlungen Einhalt gebieten sollen, der Markt und die Politik, versagen – und zwar egal ob gelenkter Staatskapitalismus oder freie Marktwirtschaft draufsteht. Das Label verheimlich nur, wie der Historiker Harari schrieb, dass die Systeme inhaltlich derselben Religion huldigen: Wachstum. Hinter Wirtschaftswachstum versteckt sich jedoch ein moralisches Problem, welches der Umweltschützer Gus Speth mit Gier, Apathie und Ignoranz beschrieben hat.
Die Klimakrise als Prisoner’s Dilemma
Eine Kultur der Maßlosigkeit erzeugt maßlose Menschen, die ihre Freiheiten ausleben wollen, aber ihre Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft nicht wahrnehmen. Mit etwas Berechtigung fragt sich der einzelne am unteren Ende der Hackordnung, warum er sich mäßigen soll, wo doch die Oberschicht bekanntlich den größten CO2 Fußabdruck hat, indem sie weder auf ihre Langstreckenflüge und transatlantischen Urlaube noch auf SUVS und argentinische Steaks verzichten will.[i] Wer kann einem da schon einen Vorwurf machen, wenn man billiges Hackfleisch von Lidl brät oder frustriert die Red Bull Dose in die Hecke des Gemeindebaus donnert? Die Klimakrise ist ein Klassenproblem[ii] und erst die Überwindung der Klassentrennung wird dies lösen. Denn: ein ökonomisch marginalisierter Mensch interessiert sich nicht für den Klimawandel oder Biodiversitätsverlust.
Das Prisoner’s Dilemma oder zu Deutsch Gefangenendilemma[i] ist ein wichtiges Element der Spieltheorie. Es handelt sich dabei um eine Situation, in der die einzelnen Entscheidungsträger immer einen Anreiz haben, sich so zu entscheiden, dass das Ergebnis für die Gruppe nicht optimal ist. Das Gefangenendilemma konnte in mehreren Aspekten des Kapitalismus nachgewiesen werden. Es ist sowohl auf die Bildungskrise[ii] wie auch auf die Klimakrise anwendbar und stellt essentiell die Frage nach der Gruppenzugehörigkeit.
Im klassischen Beispiel von zwei Gefangenen, die bei Kooperation aus dem Gefängnis ausbrechen können, während nur einer eine unsichere Belohnung erhält, wenn er den anderen beim Gefängniswärter verpfeift, wird leicht übersehen, dass auf kapitalistische Gesellschaften umgelegt, die Besitzer von Produktionsmitteln die Gefängniswärter repräsentieren, während die Gefangenen die Arbeiter sind. Ähnlich wie in der Bildungskrise sollte man jedoch angesichts der Klimakrise hinsichtlich der Spieltheorie einen Dimensionssprung vornehmen, denn das suboptimale Ergebnis von Einzelentscheidungen betrifft nicht zwei Gefangene, die kooperieren können, sondern die Kooperation zwischen Gefangenen und Gefängniswärtern.
Von einer ökologischen Perspektive aus betrachtet sind sowohl Gefangene wie auch Gefängniswärter Teil eines Systems, das überlastet ist und droht zusammenzubrechen. Nur das Bewusstsein, dass wir alle Mitglieder einer einzigen Menschheitsfamilie sind, die verfügbare Ressourcen fair teilen muss und Verschwendung eliminieren kann, indem sie staatlichen Wettbewerb abschafft und globale Infrastrukturen wie etwa im Bereich der Energieversorgung herstellt, kann die Klimakrise überwinden.
Solange wir uns binär in Form von in-Gruppen und out-Gruppen organisieren, werden wir Herausforderungen globaler Dimension nicht bewältigen können. Unsere nationalstaatlichen Mechanismen sind aber danach ausgerichtet, Menschen durch einen Reisepass als Zugehörige einer Gruppe zu definieren. Unsere parteipolitischen Strukturen sind danach ausgerichtet, Angehörige einer Partei zur in-group zu zählen, was Angehörige einer anderen Partei zur out-group macht. Unsere Religionen funktionieren entlang derselben Muster.
Das Überwinden von ineffektiven Mechanismen, wie die Mitglieder der Letzten Generation konstatieren, bedeutet also im Kern, sich nicht mehr in ideologische Lager einteilen zu lassen, sondern lösungsorientiert – über alle Klassen hinweg - Allianzen einzugehen, die sich wirklichem Fortschritt und somit der Meritokratie verschrieben haben. In diesem Zusammenhang muß betont werden, dass das Einparteiensystem zumindest theoretisch als ein Fortschritt gegenüber dem Mehrparteiensystem erkannt werden kann, sofern es sich dem Fortschritt verpflichtet und nicht wie meist praktisch der Fall, der Unterbindung von berechtigten Meinungen.
Umweltschutzkommission St. Pölten
In der letzten Sitzung der Umweltschutzkommission, die etwa alle zwei bis drei Monate von DI Thomas Zeh, dem Leiter der Umweltabteilung des Magistrates ausgeschrieben wird, um über Themen des städtischen Umweltschutzes mit Repräsentanten der Zivilgesellschaft zu diskutieren, gingen die Wogen hoch. Auf der Agenda stand die Verleihung eines Preises an die ehemaliger Leiterin der Umweltschutzabteilung, DI Leutgeb-Born, die erfolgreiche Einreichung des fit4urban Projektes durch Stadtplanering Carina Wenda und als Haupttagungspunkt die Vorstellung einer großen Biotop-Studie durch Dr. Thomas Denk – dem inoffiziellen Stadtbiologen.
Ich war wegen letzterer Studienpräsentation erstmals Teilnehmer der Umweltkommission und wurde von einem Thema überrascht, welches ich nicht am Radar hatte: den Bau des niederösterreichischen Polizeitrainigszentrums im Westen der Stadt. Ein betroffener Bewohner des Stadtteils brachte mit einem Vertreter einer Umweltschutzorganisation einen Antrag auf Re-evaluierung des Projektes ein und kritisierte äußerst eloquent die Mediokratie, welche die sozialdemokratische Stadtregierung implementiert. Es war ohne Einbeziehung der Anrainer dieses seit Jahren größte Bauprojekt der Stadt entschieden worden, obwohl diesen anstatt der drohenden Lärmbelastung durch Hubschrauber und Übungshallen für Langfeuerwaffen ein Wald mit mehreren tausend Bäumen versprochen worden war.
Nun handelt es sich bei diesem Thema um keines, das in den klassischen Umweltschutz fällt, wenn man Lärmbelastung von Menschen nicht als Materie des Umweltschutzes im engeren Sinne erachtet, aber nicht nur die Art der Entscheidungsfindung, wie auch die politischen Motive dieses lokalen Falles sind ein Bilderbuchbeispiel, welches Mitglieder der Letzten Generation als „ineffektive Mechanismen“ anprangern. Die Entscheidung der Stadt den geplanten und den Anrainern versprochenen Wald ohne Diskussion mit einer neun Hektar großen Gebäudestruktur zu ersetzen, die 1600 Arbeitsplätze in die ehemalige Industriestadt bringt, ist ökonomisch nachvollziehbar – sozial gesehen ist sie inakzeptabel.
Nichtsdestotrotz gibt der sozialdemokratische Vizebürgermeister Ludwig eine Verteidigungsrede des Projektes zum Besten, die inhaltlich leer ist und die jeder achtsame Mensch wie ich nun schon öfters feststellen musste[i] als Unwahrheit empfinden muss. Auf die Frage, seit wann mit dem Innenministerium über das Polizeitrainingszentrum verhandelt wird, erwidert er mit einer typischen Ausrede sinngemäß „Mir stehen keine Detailinformationen zur Verfügung, aber diese Verhandlungen haben ohne Zweifel erst nach der Bewerbung des Stadtteiles als grünes Siedlungsgebiet begonnen und haben sich nicht überschnitten.“
Faktum ist, dass sich die Stadtregierung eines der ökonomisch wichtigsten Projekte der kommenden Jahre gesichert hat, die nach dem Abzug der niederösterreichischen Landesregierung aus Wien, noch einmal 1600 von der Bundesregierung finanzierte Beamten-Arbeitsplätze in die Region bringt. Die Abwägung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Auswirkungen auf ein Ökosystem stehen also in diesem Fall ebenso im Zentrum wie in fast jeder klassischen Fragestellung von Umweltschutz und Klimawandel und es ist nicht per se zu kritisieren, dass man der Wirtschaft Vorzug gegeben hat, sondern dass keine Interaktion mit den Betroffenen eingegangen wurde, um die Auswirkungen bestmöglich einzudämmen.[ii] Wie schon so oft in St. Pölten wird das Vertrauen der Bürger schwerstens verletzt und somit nur schwer wieder aufzubauendes „social capital“ zerstört.
Diese Zerstörung von Vertrauen wie sie ua der Politikwissenschafter Francis Fukuyama[iii] in mehreren Büchern beschrieben hat, entsteht durch mangelhafte Transparenz, wiederholte unwahre Aussagen, von der Realität enthobene Politiker, denen ihr kurzfristiger Machterhalt wichtiger ist als das langfristige Wohl von Bürgern und Umwelt. Hier schliesst sich der Kreis zwischen der Umweltschutzkommission in St. Pölten und Henrik Ibsens Theaterstück „Der Volksfeind“ und erhält eine beachtliche Pointe nach der Präsentation der Biotop-Studie wegen der ich ursprünglich diesem lokalpolitischen Schauspiel beiwohnte. Als ich den Autor Dr. Denk frage, ob er uns eine Kopie seiner Studie zukommen lassen kann antwortet er sinngemäß, dass er das nicht wisse. „Schliesslich ist die Studie im Auftrag der Stadt entstanden. Und in St. Pölten ist es nicht üblich, dass derartige Berichte an die Öffentlichkeit gehen. Und wenn, dann nur zögerlich.“ Auf meine Feststellung, dass die Studie mit Steuergeld erstellt worden sei, ernte ich ein Seufzen und Achselzucken.
14 Volksfeinde im Hammerpark
Im St. Pöltner Hammerpark steht eine Skulptur, in die mich vor einiger Zeit unser Sohn geleitet hat. Im Inneren der Halbkugel findet man 14 Namen und befindet sich quasi in einem geschlossenen, von der Umwelt abgeschnittenen Raum. Ich drehte mich um meine eigene vertikale Achse und las die Namen auf den Schildern, ging aus der Halbkugel wieder raus in den Park und las die Beschreibung der Skulptur. Ich ging wieder rein. Der vom Park abgeschlossene, aber durch die Öffnung der oberen Kugelhälfte doch mit der Welt an sich verbundene Raum beeindruckte mich.
Es waren die Namen von 14 Widerstandskämpfern, die gegen Ende des Krieges im Jahre 1945 im Hammerpark ermordet worden waren. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Denn damals vor etwa zwei Jahren erkannte ich das erste Mal, dass meine Entscheidung im Jahr 2016 in die Resistance zu gehen und die zweite Hälfte meines Lebens der Umweltbildung zu widmen anstatt weiterhin in der Wirtschaft unerfüllt Geld zu scheffeln, sehr wohl mit diesen Widerstandskämpfern verglichen werden kann.
Die außergewöhnlich traurige Geschichte dieser 14 Personen, die zu Ende des zweiten Weltkrieges von Mitbürgern in Uniform hingerichtet wurden, führt uns klar vor Augen, wie ähnlich der Fall Klimaaktivist und Widerstandskämpfer ist und wie schnell die Rollen, die man im Gefangenendilemma einnimmt, sich ändern können. Nur wenige Wochen später waren die Hinrichtenden zu Kriegsverbrechern geworden und die Volksfeinde zu Märtyrern. Es ist natürlich immer eine Frage der Perspektive, wie man Menschen einordnet und welche Rollen man ihnen zuteilt, aber der der Wahrheit verpflichtete Humanist, weiß daß die Einordnung immer wieder neu im jeweiligen Moment erforderlich ist.
Umgelegt auf die Gegenwart ist dennoch ein gewisser geistiger Sprung vorzunehmen, der manchen meiner Gesprächspartner schwerfällt. Kann man denn die Klimakrise mit dem Nationalsozialismus vergleichen? Ich antworte meistens mit einer Gegenfrage: Warum vergleicht man - wie etwa im zuvor erwähnten Zeit-Magazin - Klimaaktivisten mit Fundamentalisten oder Rechtsradikalen? Entbehrt dies nicht jeder Grundlage? Ist es nicht so, dass Klimaaktivisten die Gesellschaft nicht zerstören, sondern die Mitbürger darauf aufmerksam machen wollen, dass sie sich selbst zerstört?
Das wollen viele nicht einsehen, denn die Mehrheit, so glaubt man hat Recht, und vor allem dann, wenn sie sich das „label“ Demokratie aufheften kann. Aber hat eine Mehrheit Recht, die den Planeten unbewohnbar macht und große Teile der Bevölkerung ökonomisch marginalisiert? Sind die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung, die 49% der Treibhausgase verursachen, nicht vergleichbar mit der nationalsozialistischen Herrenrasse, die den Untermenschen den Gar ausmachen will? „Aber sei doch nicht so extrem, höre ich da oft. Dieser Vergleich ist doch vollkommen überzogen.“ Nein, das ist er nicht.
Die Halbkugel im Hammerpark zeigt räumlich nachvollziehbar, dass Volksfeinde eine in der Minderheit befindliche out-Gruppe darstellen, die in einer stark konformen Gesellschaft wie dem Nationalsozialismus von der in-Gruppe ermordet werden dürfen. Wir leben in der Gegenwart wiederum in einer stark konformen Gesellschaft, die Reichtum in den Händen weniger konzentriert und die mangelhafte Verteilung von Wohlstand durch Scham und Schuld aufrechterhält. Es ist daher für die konservative „Mehrheit“, die sich ihre Privilegien nicht nehmen lassen will, noch immer in Ordnung die Letzte Generation zu verurteilen; und die von der Mehrheit gewählten Politiker können weiterhin Steuergelder für Fußballstadien[i], Skizirkus[ii], Olympische Spiele in austrocknenden Städten[iii], FIFA Worldcups in Wüstennationen, oder wie im Falle von St. Pölten für eine pompöse Musikschule[iv] ausgegeben werden, obwohl zeitgleich die Infrastruktur der Pflichtschulen oft an Kriegsgebiete erinnert.[v]
Weiterlesen:
- Zu den deutschen Bundestagswahlen 2018 und der Lähmung der Demokratie: https://www.mingong.org/blog-en/the-anatomy-of-democratic-destructiveness
- Über den Spielfilm Downsizing und die Unmöglichkeit die Klimakrise durch Umwelttechnologie zu bewältigen: https://ark.greensteps.me/page/downsizing-our-upscaling/
- Zu agiler Demokratie und Meritokratie als Alternative zum Status Quo: https://ark.greensteps.me/page/on-agile-democracy-and-spheres-of-justice/
Fußnoten:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Henrik_Ibsen
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/An_Enemy_of_the_People
[3] https://www.landestheater.net/de/spielplan/spielzeit-2022-23/ein-volksfeind-oder-das-ringen-um-wahrheit
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Piefke-Saga
[5] https://www.derstandard.at/story/2000143764538/skifahren-um-jeden-preis-orf-schauplatz-ueber-den-millionenaufwand-in
[6] https://www.zeit.de/zeit-magazin/2023/08/letzte-generation-mitglieder-motivation-klimaaktivismus
[7] https://www.mingong.org/blog-en/a-lucid-manual-for-transformation-by-architect-friedrich-von-borries; https://www.mingong.org/blog-en/book-review-design-theorist-friedrich-von-borries-on-how-to-project-the-world
[8] https://www.oxfam.org/en/press-releases/worlds-richest-10-produce-half-carbon-emissions-while-poorest-35-billion-account
[9] https://kontrast.at/andreas-kemper-interview-klasse/
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Gefangenendilemma
[11] https://www.mingong.org/blog-en/on-the-education-crisis-and-the-prisoners-dilemma
[12] https://www.facebook.com/formanek.niko/videos/208993215039861
[13] Der betroffene Anrainer bringt vor, dass mit wenig Aufwand im Vergleich zu den erreichbaren positiven Auswirkungen das Projekt örtlich etwas versetzt hätte werden können, wenn man Entschädigungszahlungen für Landwirte im Baugebiet in Kauf genommen hätte.
[14] https://www.darkmatteressay.org/the-great-disruption-by-francis-fukuyama.html
[15] https://www.linza.at/117-millionen-explodieren-jetzt-auch-die-kosten-fuer-die-lask-raiffeisen-arena/
[16] https://www.derstandard.at/story/2000143764538/skifahren-um-jeden-preis-orf-schauplatz-ueber-den-millionenaufwand-in
[17] http://www.mycountryandmypeople.org/01-blog-2133823458/beijing-2022-on-chinese-nationalism-western-bigotry-and-global-sustainability-of-large-scale-sporting-events
[18] https://kurier.at/chronik/niederoesterreich/sankt-poelten/erster-blick-auf-neuen-musik-und-kunstschulcampus-in-st-poelten/401406423
[19] beispielsweise NMS Viehofen oder VS Ratzersdorf
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Im Museum Niederösterreich ist bis 21.1.2024 eine interessante historische Ausstellung zu sehen, die sich mit der "Protestkulur" in Niederösterreich beschäftigt und eine stattliche Anzahl an Streiks, Aufständen, Widerstandsbewegungen und Ähnlichem im Detail dokumentiert.
Die Publikumsführung durch das wissenschaftliche Team des Museums unter der Leitung von Dr. Christian Rapp war informativ, ist aber leider nicht auf die hinter diesen Protesten stehenden Motive näher eingegangen. Die Führung verlor sich daher in der detaillierten Erzählung von einzelnen historischen Ereignissen.
Im Anschluss lud die Dramaturgin des Landestheaters Julia Engelmayer an die Lange Tafel zu einer Publikumsdiskussion. Einer der Teilnehmer war der Museumsdirektor Matthias Pacher, mit dem ich mich vor etwa zwei Jahren für ein längeres Gespräch getroffen hatte, um Synergien zwischen der Arbeit von Green Steps im Naturraum St. Pölten und den Ausstellungen des Museum Natur zu finden.
Eine unverschämt gelogene Wortmeldung von Matthias Pacher führte dazu, dass ich diesen zur Rede stellte. Der Moderatorin Julia Engelmayer war das nicht gerade recht, weswegen ich ihr einige Zeilen zur Relevanz von Klassen(selbst)bewusstsein schrieb.
Wenn sich Vertreter der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht zu einem Diskurs über Protestkultur treffen und die zentrale Frage im Raum steht, welche Allianzen geschlossen werden müssen, um dem Klimawandel effektiv zu begegnen, muss selbstkritisch hinterfragt werden dürfen, welcher Klasse wir selbst angehören und welche Prozessbeteiligungen wir zulassen oder nicht.
liebe frau engelmayer,
danke für die Organisation dieser Veranstaltung. Zumindest ermöglichen derartige Abende ein Gespräch an einem Tisch.
Zur Selbst-Reflexion möchte ich ihnen jedoch ein feedback geben: sowohl sie als auch Herr Brossmann neben mir haben durch Mimik und Gestik gezeigt, dass meine Antwort auf Herrn Pachers statement fehl am Platz war. War sie dass? Ist das Aufzeigen von lokalem Machtmissbrauch fehl am Platz - gerade wenn sich Menschen zum Thema Protestkultur und Umweltschutz auseinandersetzen? Wir haben uns getroffen, um über Protestkultur offen zu diskutieren, aber es wird eine offensichtliche Lüge, die letztendlich zum mehrfach angesprochenen Vertrauensverlust führt, akzeptiert und es wird indirekt ersucht darüber nicht zu sprechen.
Sie haben das Stück Ibsens wiederholt und die Bürgermeisterin gemimt.
Anbei meine Korrespondenz mit Herrn Pacher zwischen Feber und April 2021, die als Beweis dient. Sie fragen sich vielleicht als Beweis worfür. Ich hausiere seit 11.Jänner 2021 bei verschiednen Entscheidungsträgern der Stadt - angefangen mit dem Bürgermeister und Herrn Pacher inkludierend - mit einem Konzept für Umweltbildung, das unser schwer krankes primäres und sekundäres Bildungssystem für den Klimawandel tauglich machen soll.
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Herr Pacher hat sich gestern entschuldigt, aber auch diese Entschuldigung war unaufrichtig. Er hat ganz bewusst, trotz zweimaligem Nachhaken nicht geantwortet. Der Grund war mir damals schon klar, denn er hat diesen in unserem Treffen angeführt: das Museum NÖ kooperiert nicht mit externen Organisationen für sein Programm und er will keine “externe Bespielung” seines Hauses. Anstatt mit uns gemeinsam das Programm des Museum Natur nahtlos mit dem umliegenden Freiraum der Stadt - wie von mir vorgeschlagen - zu verbinden, hat Herr Pacher im Frühling darauf erstmals seine eigenen Mitarbeiter eingespannt, den Museumsgarten als pädagogische Fläche zu aktivieren und im Jahr darauf die Vogelstimmenplakate quer durch die Stadt zu installieren.
öffentliche Museen sind mit Steuergeldern finanziert, umso kritischer sehe ich die Verfehlungen von Herrn Pacher, die wie viele andere Entscheidungen in der Stadt darauf abzielen, eine Art von Monopol in gewissen Kulturbereichen aufzubauen. Sprechen sie mit den Leuten vom Sonnenpark oder dem Eigentümer der Seedose, die werden ihnen viel zu diesem top-down Kulturprogramm der Stadt und des Landes erzählen - wenn sie mit ihnen so offen reden wie mit mir.
Das Kernproblem im menschlichen Zusammenleben war und ist, so wie Aldous Huxley 1962 in seinem berühmten Essay on the politics of ecology geschrieben hat, der Missbrauch von Macht - in jeglicher Konstellation, die in unserem sozialen Universum denkbar ist. Es ist der Missbrauch der Macht, der seit jeher in Protesten und Revolutionen überwunden werden wollte. Es ist der Missbrauch von Macht der die Produktionssteigerungen durch Automatisierung und Digitalisierung nicht an die Weltbevölkerung fair weitergeben hat. Es ist der Missbrauch von Macht, der diese Klimakrise erzeugt.
Wieder runtergebrochen auf die lokale Ebene: hätte Herr Pacher 2021 nach unserem Treffen aufrichtig seine Verantwortung als Museumsdirektor der Allgemeinheit gegenüber erfüllt, so wären einige tolle von meinem Verein in Shanghai entwickelte Formate ins Museum Natur als Bereicherung gelangt. Er hätte wie mit Handschlag zugesagt einen Folge-workshop organisieren müssen und sein Haus nicht nur für meinen Verein als Plattform öffnen können, um einen dringend notwendigen Bottom-up Diskurs zum Klimawandel zu starten und das Museum Natur im Idealfall in eine bürgeroffene Institution wie das Climate Lab in Wien zu verwandeln. Das hätte zumindest ich an seiner Stelle als achtsamer und systembewusster Museumsdirektor eingeleitet.
Derartigen Situationen begegne ich in meiner Rolle als Vertreter einer NGO in St. Pölten wiederholt … Arroganz, Apathie und Machtdenken sind die wirklichen Hürden. Ohne dass wir diese offen ansprechen, wird sich der status quo zu langsam ändern. Organisationen wie Green Steps sind in St. Pölten bzw Niederösterreich, wie Herr Formanek richtig sagt, Bittsteller der untersten sozialen Klasse: https://www.facebook.com/formanek.niko/videos/208993215039861
Indem sie das Gespräch über derartige Verfehlungen salonunfähig machen, tragen sie dazu bei diese Machtsituation zu festigen, anstatt in unserem Dorf Veränderung einzuleiten. Der positive Narrativ alleine reicht nicht, um Veränderung herbeizuführen. Es bedarf einer kämpferischen Haltung - wie uns die Ausstellung gezeigt hat - und einer Gesprächskultur die Konflikte nicht scheut, sondern sie der Wahrheit verpflichtet dort austrägt, wo sie aufkommen.
Ich empfehle ihnen daher, die nächste Veranstaltung zum Thema Umweltschutz nicht als Kulturprogramm, sondern als Aktionismus zu inszenieren. Eine Analyse der eigenen Position in der Gesellschaft bzw mehr Klassenbewusstsein und das Erkennen der eigenen Rolle ist hierzu unabdinglich. Das hat mir gestern komplett gefehlt - sogar der Berufsdemonstrant hat sich als außerordentlich privilegiert eingestuft und an der langen Tafel saßen nur Vertreter einer sehr beschränkten ökonomischen Klasse.
Bis das Gegenteil bewiesen ist, sehe ich in ihnen eine potentiell Verbündete für eine notwendige Transformation und es freut mich wieder zu derartigen Formaten eingeladen zu werden.
Mit freundlichen Grüßen, kw
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