Vergangenen Sonntag rufe ich eine langjährige Freundin an, die mich zu ihrer farewell party in Wien eingeladen hat. Leider kann ich nicht kommen. Ich bin zwar ausnahmsweise in Europa, aber in Essen, nicht in Wien. Ich wundere mich, dass Sigrid noch in Österreich weilt, denn ich wähnte sie in Zentralamerika. Es habe sich alles etwas hinausgezögert, aber nun sei es so weit. Sie fliegt am 19. September nach Puerto Rico. In ihrem mittdreißiger Leben hat sie bereits viele Jahre im Ausland verbracht und dies ist nicht ihr erstes Abschiedsfest. Aber irgendetwas ist anders. Sie hat sich eine kleine Wohnung in Wien gekauft und wird diese vermieten. Eine Art Sicherheit, eine fall back option, sollte es im Ausland doch nicht klappen. Ein Hafen, den man wieder anlaufen kann. Aber auch eine kleine und stabile Einkommensquelle, mit der sich in Puerto Rico ein ausreichender Lebensunterhalt finanzieren läßt.
Lange ist sie zwischen Kreuzfahrtschiffen im Mittelmeer und Lehraufträgen im Nahen Osten auf der Suche nach einem alternativen masterplan für ihr Leben hin- und hergependelt. Immer wieder hat es sie temporär nach Österreich zurückgezogen. Immer hat sie dieses nach kurzer Zeit wieder verlassen. Unzufrieden mit den langen, kalten Monaten des mitteleuropäischen Winters und der geistig-gesellschaftlichen Beschränktheit unserer Heimatgesellschaft. Diese Unzufriedenheit hat uns immer verbunden. Sie hat diese gesellschaftliche Beschränktheit als zu kleinen Pyjama beschrieben, der ihr das Träumen verwehrt; ich als social straight jacket, gemeint haben wir dasselbe. Ob sie in Puerto Rico mehr geistige Offenheit, mehr Integration, eine bessere gesellschaftliche Grundsituation vorfinden wird, das wage ich zu bezweifeln. Wärmer wird es jedoch sicher sein, und sie wird wieder zu sich selbst und zu ihrem kollektiv Unbewussten auf Distanz gehen können.
Ich frage Sigrid wie ihr Abschiedsfest gelaufen, wer aller gekommen ist. Viele ihrer Freunde habe auch ich über die Jahre kennengelernt. Wir unterhalten uns über die gemeinsamen Bekannten, wie sich deren Leben entwickelt, was sich beruflich und privat verändert hat. Dann frage ich Sigrid, ob die bevorstehende Wahl ein Gesprächsthema gewesen sei. Nein, eigentlich nicht. Nur kurz habe man negativ über die angstmachende FPÖ Kampagne diskutiert, aber es sei nicht weiter über die Wahl gesprochen worden. Warum das so ist, will ich wissen. Gebildete Bürger des Landes, welche ihren Lebensmittelpunkt in der Bundeshauptstadt haben, alle zwischen 30 und 40 sind, sollten sich doch so kurz vor der Wahl automatisch etwas zur politischen Situation austauschen. Sigrid erklärt mir auf diese Frage ihren eigenen Standpunkt, von dem sie glaubt, dass er auch von ihren Freunden weitgehend geteilt wird: Die Wahl einer politischen Partei verändere nichts im eigenen Leben. Bereits auf diese Aussage habe ich einiges entgegenzusetzen, doch ich lasse Sigrid fortfahren. Es sei doch egal, wer am politischen Ruder sitze, es ändere sich nur wenig in der Gesamtheit betrachtet. Die einzige Möglichkeit, die man habe, sei sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und dieses entsprechend zu ändern. Mit Politik verschwende man nur Zeit.
Ich verstehe, worauf Sigrid hinauswill. Sie hat viele kleine Schritte gesetzt, um sich ihr Leben so zu gestalten, wie es ihr vorschwebt, und sie setzt nun einen großen Schritt, indem sie ihrer Heimatgesellschaft for good den Rücken kehrt und sich auf ein neues Abenteuer begebend ins Ausland absetzt. Vielen fehlt dazu der Mut, vielen die Möglichkeit. Wer mit Mitte dreißig Kinder hat, kann sich einen derartigen Schritt oft nicht einmal erträumen. Man ist gebunden und muss innerhalb eines vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmens versuchen bestmöglich den eigenen Interessen und Wünschen entsprechend zu manövrieren. Unter solchen Bedingungen sollte die Wahl an Bedeutung gewinnen. Andere sind ungebunden, trauen sich aber nicht das Bekannte zu verlassen, und das Fremde als neue Heimat zu suchen. Wenige entsteigen freiwillig ihre comfort zone. Unzufrieden sind aber viele. Oft höre ich, dass man in Österreich ein “Sudern auf hohem Niveau” beobachten kann. Der Bürger ist unzufrieden, aber im Vergleich zu anderen Gesellschaften, ist dieses Nörgeln und Kritisieren des status quo ein Luxusverhalten, denn schliesslich und endlich funktioniert ja doch alles im Land der Seeligen. Gute Schulen, gesunde Ernährung, sauberes Wasser, schöne Landschaften, niedrige Arbeitslosigkeit. Alles in eitler Wonne. Wer hier zulande sudert, der sudert, weil er nicht weiß wie das Leben anderorts vonstattengeht. Das mag wohl richtig sein, vergleicht man die durchschnittlichen Lebensbedingungen von Puerto Rico, Indien oder Ghana mit Österreich, und noch vor wenigen Jahren hätte ich bei einer “Sudern auf hohem Niveau” Diskussion eingeworfen, dass solchen Mitbürgern statt einem Tennerifa Urlaub zwei Wochen Bangladesch gut tun würden.
Mittlerweile habe ich hierzu meine Meinung geändert. Grund dafür ist mein mehrjähriger beruflicher Aufenthalt in Shanghai und damit verbundene, berufliche Reisen in weiten Teilen des fernostasiatischen Raumes. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass der Wohlstand in Europa und somit auch in Österreich in Gefahr ist. “Sudern auf hohem Niveau” kann nach wie vor geheilt werden, indem man die Suderanten nach Bangladesch schickt. Jene, die sich aber beweihräuchern und auf den Lorbeeren der letzten Jahrzehnte ausruhen, empfehle ich zwei Wochen Singapur, Bangkok, Hongkong, Manila, Shanghai oder Bejing und diese Ballungsräume umgebende Industriegebiete zu besuchen. Diese Gesellschaften haben Fahrt aufgenommen und sind uns teilweise in Bereichen wie Massentransport bereits voraus. Wir werden uns anstrengen müssen, um in Zukunft mit dem asiatischen Kultur- und Wirtschafsraum konkurrieren zu können. Unsere Verwaltung muss schlanker werden, der Staat muss sich auf das Wesentliche konzentrieren, die Selbstverantwortung der Bürger muss steigen, das Unternehmertum gefördert werden, Bildungsstandards müssen angeboben und internationalisert werden, die Steuerbelastung muss sinken, ebenso wie die Staatsausgaben. Wir befinden uns aufgrund der zunehmenden Globalisierung und dem Aufstreben anderer Wirtschaftsregionen in einem Zustand der gesellschaftlichen Revolution. Wird diese nicht von den regierenden Parteien mitgetragen, kann die Regierung nicht schnell genug auf die geänderten Bedingungen reagieren, so wird sich die Bevölkerung über kurz oder lang gegen diese Regierung wenden, und im Extremfall eine politische Revolution auslösen. Ob bei den Wahlen nächsten Sonntag oder in ein paar Jahren. Die Zeit wird kommen, wo es einer Mehrheit reicht. Wenn die Zeit reif ist, meldet sich der Bürger zu Wort. Das hat die Geschichte des Westens mehrmals gezeigt. Eine Revolution wird in unseren Breiten nicht blutig enden. Sie wird nicht alle Probleme lösen. Aber sie wird die Weichen anders stellen und unsere Gesellschaft auf die neuen Herausforderungen besser einstellen.
Sigrids Ignoranz der Politik und damit ihre Ignoranz der Möglichkeit einer, wenn auch friedlichen Revolution, hat mich an eine philosophische Diskussion meiner Gymnasialzeit erinnert: Verändert der Mensch die Art seines Zusammenlebens durch Revolution oder durch Revolte? Revolte ist hierbei die Auflehnung eines Individuums gegen von außen auferlegte oder verinnerlichte Zwänge und Erwartungen, etwa gegen die Familie oder die sozialen Normen der Gesellschaft. Die Revolution versteht sich hingegen als meist, jedoch nicht immer, gewaltsamer politischer Umsturz.
Die Antwort ist klar: weder Revolte noch Revolution, sondern Revolte und Revolution. Jeder Mensch muss sich als Individuum in der Revolte selbst erneuern, sich häufig hinterfragen, Entscheidungen abwägen. Sigrid hat dies in vielerlei Hinsicht getan, sie ernährt sich gesund und bewusst. Sie hat sich für ein Leben gegen übermäßigen Konsum entschieden. Sie hat ein alternatives Berufsprofil angestrebt, um nicht in einer nine-to-five Tretmühle gefangen zu sein. Sie kauft fair trade Produkte anstatt billiger Massenware. Sie hat durchschnittliche Beziehungen für den Glauben an den richtigen Partner aufgegeben, um sich nicht lebenslang an einen Kompromiss unglücklich zu binden. Sie macht kulturell anspruchsvolle Individualreisen und keine öden Sauf-am-Strand Urlaube. Sie hat dem familiären Druck nicht nachgegeben, bis spätestens 30 heiraten zu müssen. Sie trainiert zweimals wöchentlich Yoga, um in sich selbst zu ruhen. Sigrid war für mich immer der Inbegriff des Menschen in Revolte, der ständig die eigene comfort zone verlässt. Und ich hab das immer gut gefunden. Während unseres Telefonats muss ich aber auch konkret Stellung beziehen, da für mich der Mensch eben in Revolte, aber auch Teil der Revolution sein muss. Das Individuum kann sich nicht von der Gesellschaft losgelöst betrachten, daher muss es im Willen zur Veränderung auch die Revolution – still oder blutig – mittragen und sich and jenem Raum beteiligen, in dem wir uns ausmachen, wie wir zusammenleben: der Politik. Revolution und Revolte. Es ist Zeit Mut zu zeigen und eine politische Veränderung einzuleiten. Think pink. Wähle neos.