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Für uns begann alles mit der Geburt unserer Tochter Zoe am 25. Mai 2008 in der erhabenen Semmelweiss Klinik im 18ten Wiener Gemeindebezirk am Rande des schönen Wienerwaldes, dem östlichsten Ausläufer der Alpen, dort wo die germanische Welt auf die slawische und magyarische stößt und wo unzählige Ortsnamen noch die Geschichte der weitesten Ausdehnung des Osmanischen Reiches ins christliche Europa erzählen. Der direkt vor unserer Haustüre gelegene Türkenschanzpark, ein wunderschöner Park mit riesigen Sandspielplätzen und mächtigen mehr als hundert Jahre alten Kastanienbäumen, war ein Jungfamilienparadies, welches von unzähligen Kinderbetreuungseinrichtungen umgeben war. Als sich Zoe anmachte ihre ersten Schritte zu gehen besichtigten wir sowohl öffentliche wie auch private Kindergärten, Tagesmütter, selbst organisierte Kindergruppen, die meisten in nur 10 Minuten Gehentfernung von unserer Wohnung gelegen.
Wir entschieden uns schließlich für einen privaten Kindergarten direkt am Nordeingang des Türkenschanzparkes, der uns aufgrund seiner Verbindung mit dem im selben Haus gelegenen Altersheim überzeugt hatte. Bei der Besichtigung desselben waren die kleinen Zwerge gerade für ihren wöchentlichen Besuch bei den Senioren und für mich war die Qual der Wahl zu einem raschen Ende gekommen. Alle Kindergärten die wir gesehen hatten verfügten zumeist über bilinguale Betreuung, hochwertige Holzmöblierung, sicheres Holzspielzeug, einen eigenen Garten mit Spielplatz. Die Idee einen Kindergarten mit einem Altersheim zu kombinieren fanden wir allerdings genial und für EUR 150 monatlich aufgrund der Wiener Stadtförderung sehr erschwinglich.
Zoe war kaum ein Jahr alt als sie ihre ersten Tag ohne Mama in der Kindercompany Währing verbrachte; und obwohl sie noch sehr klein war, wussten wir sie in guten Händen. Xue konnte beruhigt ihr Studium an der ebenfalls nahe gelegenen Universität für Bodenkultur fortsetzen, von wo sie im Notfall in wenigen Minuten zum Kindergarten kommen konnte, und ich fuhr mit meinem Stadtroller jeden Tag ins südliche Wien in die Arbeit, um den Familienunterhalt zu verdienen. An Nachmittagen und Wochenenden schoben wir Zoe im 2nd-hand Bogaboo durch den Türkenschanzpark oder gingen im Prater und den Weinbergen am Rande des Wienerwaldes spazieren und wandern.
Diese familiäre Harmonie sollte zu einem raschen Ende kommen als ich nur ein halbes Jahr später etwas überraschend ein schwer auszuschlagendes Angebot bekam, beruflich nach Shanghai zu wechseln. Ich muß gestehen, dass ich mich manchmal frage, ob ich damals nicht zu viel aufs Spiel gesetzt habe. Wien ist im Rückblick ein Idyll von dem man als Jungfamilie nur träumen kann, insbesondere, was die Kinderbetreuung betrifft, aber man bekommt vom Leben, was man sich innig wünscht, und ich hatte seit unserer ersten China-Etappe nichts anderes im Sinn als wieder in Reich der Mitte zurückzukommen.
Im November 2009 fasste ich daher den Entschluß, nach Wiener Vorbild eine eigene Kindergruppe auf die Beine zu stellen, welche sowohl erschwinglich wie auch zentral gelegen sein sollte, und veröffentlichte eine Anzeige auf mehreren Expat-Plattformen. Auf einer meldete sich umgehend ein gewisser Christian Bösselmann aus Hamburg, und so begann unsere gemeinsame Reise im Spatzennest. Mit Christian und Beata verbindet Xue und mich heute eine enge Freundschaft, die aus einem Problem heraus entstanden ist, einem pain point wie man heutzutage im Englischen treffend sagt, mit welchem beide Familien zeitgleich konfrontiert waren und zu welchem sie gemeinsam eine Lösung gefunden haben. Unsere Lösung war niemals ideal oder gar perfekt, aber sie war eine Annäherung an unsere Vorstellungen und eine maßgebliche Verbesserung gegenüber dem vorgefundenen Status Quo.
Den wenigsten ist heute bewusst welche Anstrengungen insbesondere die Gründungsphase des Spatzennests erforderte. Wochenlange Wohnungssuche, Vertragsverhandlungen, Renovierung, die behördliche Beilegung eines Nachbarstreits, lautstarke Auseinandersetzungen mit Polizei, Bildungs- und Gewerbebehörde, wo wir von unseren Nachbarn angezeigt wurden, und das Risiko finanzieller Vorauslagen. Viele wissen um die Herausforderungen, die der Betrieb des Spatzennests in der gegenwärtigen Ausgestaltung mit sich bringt: wiederholte Schwierigkeiten Visa für das Lehrpersonal zu bekommen, das ständige Navigieren in einer Grauzone und damit einhergehend die Unsicherheit des Personals über die eigene Arbeitsstelle, wiederholt aufflackernde interkulturelle Dispute zwischen chinesischen und deutschsprachigen Eltern, und das permanente Problem, Eltern für die vielen ehrenamtlichen Aufgaben zu gewinnen.
Das Spatzennest ist nun etwa fünf Jahre in gegenwärtiger Größe mit 24 Betreuungsplätzen und vier vollzeitäquivalenten Lehrkräften. Die Aufgaben in einer non-profit Einrichtung ändern sich in deren Wachstum ebenso wie im Lebenszyklus eines Unternehmens. Die Gründerphase bringt andere Herausforderungen mit sich als jene der Konsolidierung. Non-profit Einrichtungen haben jedoch immer im Gegensatz zu for-profit Unternehmen mit zwei wesentlich unterschiedlichen Faktoren umzugehen. Einerseits können die Beiträge der Beteiligten, im Fall des Spatzennests der Eltern, nicht klar quantifiziert und dementsprechend belohnt werden. Es gibt keine geregelte Arbeitszeit, die mit einem branchenüblichen Gehalt abgegolten wird. Andererseits werden die Nutznießer einer non-profit Einrichtung, im Falle des Spatzennestes sowohl die Kinder wie auch die Eltern, nicht wie Kunden oder Angestellte des Unternehmens behandelt. Dies führt automatisch zu Spannungen zwischen jenen, die sich einbringen und jenen die eher ausschließlich konsumieren. Dies ist ein Versuch, den altruistischen Zugang, sich einzubringen, nachvollziehbar zu erklären.
Im Rückblick gilt es eigentlich nur zu fragen, warum man seine Zeit aufbringt, ohne wie wir es im kapitalistischen System gewohnt sind, ein monetäres Entgelt zu bekommen. Was motiviert uns hierzu? Mein ursprünglicher Beweggrund, eine Kindergruppe zu initiieren war wie bereits ausgeführt ein pain point: keine erschwingliche und zentral gelegene Betreuungseinrichtung für Kleinkinder in Shanghai. Das Spatzennest erfüllt diesen Zweck nachwievor, obwohl CNY 3800 zumindest für europäische Maßstäbe schwer als non-profit erklärbar sind. Ich kann mich noch erinnern, dass wir 2010 einen monatlichen Beitrag von CNY 2000 anpeilten, sich aber vor allem die Kosten für die Lehrer und die Miete der Wohnung innerhalb der Jahre stark erhöht haben.
Jede Stunde, die man im hier und jetzt ohne Erwartung auf eine Bezahlung investiert, wird von einer unsichtbaren Hand in einer mysteriösen Bank hochverzinst angelegt. Zumindest ist das mein Eindruck und wohl die wichtigste Lektion, die mir das Projekt Spatzennest gelernt hat. Unser Besuch diese Woche bei den Bösselmanns in Hamburg, wohin diese 2015 zurückgekehrt sind, hat dies wieder einmal bestätigt.
Darüber hinaus hat mir die Arbeit im Elternvorstand viel über mich selbst und über den Umgang mit anderen gelernt. Es ist eigenartig, aber meiner Wahrnehmung nach, tragen wir keine oder weniger Masken in einer non-profit Umgebung in der wir dieselbe Mission ohne große Diskussion teilen, während wir am Arbeitsplatz ständig auf der Hut sind, nicht negativ oder nur in einer bestimmten Art und Weise positiv aufzufallen. Insofern hat mir die Arbeit im Spatzennest meine intra- und interpersoneller Intelligenz mehr geschärft als dies meine Lohnarbeit je getan hat. Die Kooperation mit Eltern für das Wohlbefinden aller Kinder hat eine andere Qualität als die Kooperation mit Arbeitskollegen um Umsatzziele für Produkte zu erreichen, hinter denen man vielleicht nicht zu hundert Prozent steht.
Keiner weiß wie lange dieser kleine Kindergarten noch bestehen wird, aber es ist ohne Zweifel empfehlenswert sich auf dieses Abenteuer einzulassen und seine Zeit – solange es Sinn macht - in dieser Bank hochverzinst anzulegen. Unsere Kinder sind eine Chance über uns hinauszugehen und das zu erfahren, was Abraham Maslow als das menschliche Verlangen auf Transzendenz beschrieb: sich selbst zu verwirklichen indem man anderen hilft. Unsere Kinder sind eine indirekte Pforte zu dieser Transzendenz, denn wir engagieren uns für sie, um eigentlich ein anderes menschliches Bedürfnis zu befriedigen, nämlich jenem nach Zugehörigkeit und Liebe.
Insofern können zumindest Xue und ich die oben gestellten Fragen klar mit ja beantworten. Wir würden uns nochmal für das Spatzennest engagieren und sind dankbar für all die Erfahrungen, die wir im Laufe dieser acht Jahre sammeln durften.