Von mehr als 900 in Österreich registrierten politischen Parteien hat es NEOS als dritte Partei seit 1945 durch Wahlen ins Parlament geschafft. Manche Stimmen haben unmittelbar nach der Wahl behauptet, dass NEOS die erste Partei seit 1945 ist, die auf Anhieb in den Nationalrat eingezogen ist. Sieht man in NEOS eine Erneuerung sowie Neubündelung der liberal Gesinnten des Landes – so wie dies auch die Graphik oben tut, indem der Stimmenzuwachs basierend auf dem Ergebnis des LIF von 2008 berechnet wird – so ist diese Behauptung falsch. Es handelt sich dann um einen Wiedereinzug unter neuem branding. Eine Frage der Betrachtungsweise.
NEOS – Erbe der liberalen Tradition?
NEOS setzt einerseits eine politische Grundgesinnung fort, deren Wurzeln in der bürgerlichen Revolution von 1848 liegen und seitdem in unserer Gesellschaft ununterbrochen Anhänger gefunden hat, wenngleich sich die liberale Kraft nur zeitweise in einer politischen Partei formieren und auch in die gesetzgebenden Volksvertretungen einziehen konnte. Ein starkes Indiz dafür: NEOS konnte unter der integrativen Führung der Parteigründer Matthias Strolz und Veit Dengler durchaus inhaltlich gegensätzliche Bewegungen wie das Liberale Forum (LIF) unter der Führung von Angelika Mlinar oder die jungen Liberalen (JuLis) unter der Führung von Niki Scherak unter einem Dach vereinen. Ein vollständige Integration des LIF steht bevor.
Nach dem Rücktritt von Veit Dengler als Geschäftsführer der NEOS – Dengler hat seinen Posten als neuer CEO der Züricher Zeitung Verlagsgruppe angetreten - bietet Strolz andererseits unter diesem Dach eine neue Heimat für vom politischen Stillstand Verdrossene aller anderen Gesinnungen, denen der Gedanke einer pragmatischen, lösungsorientierten Bürgerbewegung sympathisch ist. Insofern hat sich der Charakter der liberalen Bewegung vom ursprünglichen set up etwas entfernt: aus einer klassischen Partei, die auf einer liberalen Ideologie fundiert und diese Tradition fortführt, ist ein überideologische Einsatzkommando zur Rettung des Bildungs- und Pensionssystems mit einem liberalen Fundament geworden. Nur zum Vergleich: das abstrakt-philosophische Parteiprogramm des LIF, welches unter der Federführung des ehemaligen LIF Abgeordneten Volker Kier entstanden ist, umfasst bibelähnliche 2600 Seiten, während das unideologisch-pragmatische Programm der NEOS nur Siddharta-ähnliche 74 Seiten zählt. Ähnlich moderner synkretistischer Religionen, die sich aus traditionellen monotheistischen Lehren und im Westen neueren östlichen Lehren einen eigenständigen Weg formen, hat NEOS die politischen Traditionen der christlich-konservativen Volkspartei, jene der linksliberalen Grünen sowie des gesell- und wirtschaftsliberalen LIF aufgenommen, um mit dem Salz der professionellen Organisationsentwicklung einen neuen politischen Zaubertrank zu brauen. Der Wahlerfolg hat gezeigt, dass diese Mischung einige Kraft in sich birgt.
Über die Spiritualität der Politik
Politik und Religion haben in der Tat einige verblüffende Ähnlichkeiten, insbesondere im seligen Österreich, in dem sich nicht nur die Zahl der Kirchenaustritte, sondern auch die Anzahl der Politikverweigerer mehrt. Interessanterweise lässt sich seit 1945 eine parallele Entwicklung zwischen dem Verlust der Absoluten Mehrheit der katholischen Konfessionzugehörigen und dem Schrumpfen der beiden Grossparteien erkennen.[iii] Verlieren gesellschaftliche Ordnungsstrukturen ihr anfängliches Feuer, höhlt sich das einst von brennenden Gläubigern errichtete Organisationsgebäude in eine leere von Machtmenschen aufrechterhaltene Gruft, so zieht es die Menschen, deren Seelen de lege naturae das Lebendige suchen, aus diesen Gebäuden in andere wie zB Einkaufstempel. Der deutsch-kanadische Autor Eckart Tolle hat vor wenigen Jahren mit Büchern wie The Power of Now oder A New Earth versucht einen modernen, synkretistischen Zugang zur Spiritualität zu beschreiben, der sowohl traditionelle Religionen wie auch neuere Lehren miteinander verbindet. 2011 wurde Tolle von der Watkins Review zur most spiritually influential person in the world gewählt und mit der Unterstützung der TV Queen Oprah Winfrey kam es in Nordamerika regelrecht zu einem evangelikalem Interesse an Spiritualität.
Ich will Matthias Strolz keineswegs als Guru hinstellen, da der Wahlerfolg vom unermüdlichen Einsatz vieler getragen wurde. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass der von ihm an den Tag gelegte Enthusiasmus – welcher oft mit hochtourig, fahrig, gschaftlhuberisch, etc. kommentiert wird - und seine der aktiven Politik vorangegangenen Aktivitäten darauf schließen lassen, dass wir es hier mit jemandem zu tun haben, der es ernst meint, mit einem der die verstaubte Politik wieder modern und lebendig machen will. Sein Buch Warum wir Politikern nicht trauen… und was sie tun müss(t)en, damit sich das ändert beschreibt aus der Sicht eines passionierten Systemikers wie verdorben sein Lieblingsbetätigungsfeld, die Politik ist, und was getan werden muss, um die Politik wieder zu einem Raum zu machen, in dem sich Menschen gerne begegnen wollen. Das fünftägige, indianische Fastenritual, welches Strolz vor seinem Einstieg in die aktive Politik im Wienerwald unternahm, und welches in Österreichs Massenmedien nach den Wahlen breit diskutiert wurde, steigert in diesem Zusammenhang selbstverständlich die Aura, ein neuer politischer Führer sei geboren. Österreich, welches mit politischen Führern äußerst prägende, aber nicht nur negative Erfahrungen gemacht hat, darf hoffen, dass mit Herrn Strolz jemand von der lichten Seite der Macht kommt; denn die dunkle, destruktive Seite der Macht ist in unserer Gegenwartsgesellschaft bereits zur Genüge vertreten.
Die anderen beiden Parteien, die seit 1945 durch Wahlen in den Ring des Nationalrats steigen konnten, sind die FPÖ und die GRÜNEN. Die FPÖ trat 1956 das rechtsnationalistische Erbe der VdU – Verband der Unabhängigen, sowie anderer großdeutscher Gesinnungsvereinigungen an. Die GRÜNEN konnten 1986 im zweiten Anlauf nach der Vereinigung zweier Splittergruppen Nationalratssitze gewinnen. Das LIF, wie auch das BZÖ und das Team STRONACH enstanden 1993, 2005 und 2012 respektive durch Abspaltungen bestehender Nationalratsfraktionen. Sowohl dem LIF wie auch dem BZÖ traue ich nicht zu, dass sie durch Wahlen einen Einzug ins Parlament geschafft hätten. Das Team STRONACH wäre ohne vorzeitigen Mandatarwechsel bei diesen Wahlen sicherlich ebenso erfolgreich gewesen; dafür hat eine Gallionsfigur mit großem medialen Auftritt und dem dafür notwendigen finanziellen Ressourcen gesorgt.
Wahlen sind Spiegelbilder demokratischer Gesellschaften, und erhalten von breiten Teilen der Bevölkerung ein gerüttelt Maß an Aufmerksamkeit, weil sie die Möglichkeit bieten auf friedlichem Wege die bestehenden Machtstrukturen zu verändern. Eine Wahlbeteiligung von 74,4% - wenn auch nationaler Tiefstwert - ist im internationalen Vergleich beachtlich hoch und somit übersteigt die Begeisterungsbereitschaft des Bevölkerungsdurchschnittes für Politik jene für Sport eindeutig; vergleiche Einschaltquoten Endspiel Champions League oder finale Bewerbe einer Skiweltmeisterschaft. So politisch uninteressiert wie der Österreicher hingestellt wird, ist er also nicht, und dafür gebührt ihm ein Kompliment. Andererseits liegt es in der Natur des Menschen, sich im tiefsten Inneren für Politik und Spiritualität gleichsam zu interessieren; es sind verstaubte Machtapparate, die dieses Interesse ersticken. Eine “erleuchtete” Staatsorganisation würde möglicherweise Staat und Spiritualität wieder in einer Struktur vereinen, diese jedoch niemandem aufzwingen. Der Konfuzianismus war auf diese Weise in Asien erfolgreich. Mit dem Rezept “nicht über das Jenseits nachdenken, solange wir das Diesseits nicht verstehen” gewürzt mit etwas Ahnenverehrung und einer ordentlichen Beilage gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen konnte er lange und nachhaltig als seriöse politische Bewegung Fuß fassen, die auch religiöse Elemente miteinschloss.
Das Team Stronach – eine greise FPÖ?
Neben NEOS ist die FPÖ mit einem Stimmenzuwachs von 3,1 Prozent der große Gewinner dieser Wahlen, welche ihre Position als drittstärkste Partei auf Bundesebene ausbauen kann und in der Steiermark sogar stimmenstärkste Partei wird. Mit 20,1% der Stimmen kann der Parteivorsitzender Hans Christian Strache an die Glanzzeiten von Jörg Haider anschließen, unter welchem 1999 ein historischer Höchststand von 26,9% eingefahren wurde. Es ist bemerkenswert, dass wir es Franz Strohsack zu verdanken haben, dass die FPÖ bei diesen Wahlen nicht stimmenstärkste Partei in ganz Österreich werden konnte. Rein rechnerisch ergeben 20,1% FPÖ, 5,8% FRANK und 3.5% BZÖ Wähler zusammen 29.4%, womit die FPÖ fast drei Prozentpunkte vor der SPÖ liegen würde.
Herr Stronach hat einen teuren Wahlkampf geführt – 100 Euro hat er sich eine Stimme kosten lassen, rechnet man das 25 Millionen Euro Wahlkampfbudget auf die gewonnen Wähler um. Mit seiner EU Skepsis, dem Pochen auf Transparenz und Fairness, und den wirtschaftlichen Erfolgen auf welche er als Gründer des Weltkonzerns Magna-Cosma verweisen kann, hat er in den vergangenen 18 Monaten in Österreich einiges bewegt, vor allem jedoch Wählerstimmen vom greisen, rechten Lager an sich gebunden. Dass das Team STRONACH in das rechte Lager gestellt wird, finde ich übrigens nicht unbedingt richtig, diese Meinung hat sich allerdings in der Öffentlichkeit gefestigt. Ohne Zweifel hat die Politikikone Stronach im Wahlkampf einige Fauxpas begangen, wodurch das Bundesergebnis weit hinter den Landesergebnissen zurückgeblieben ist. Aber im Grunde genommen vertritt er zumindest hinsichtlich eines schlanken Staates sehr liberale Werte, die teilweise auch von NEOS stammen könnten, obgleich man sie dort anders formuliert hätte.
Wie bereits im kanadischen Wahlkampf 1988 ist Frank an seinem Alleingängertum gescheitert, welches er mit einem gehörigen Maß an Ignoranz paart. Nur die eigene Meinung, mit der er oft richtig liegt, zählt. Dies gilt allerdings auch in Fragen, von denen er keine Ahnung hat. Damit disqualifizierte sich der Unternehmer nicht nur in Österreich als ein zum team play Unfähiger. Hätte er sich selbst nicht so wichtig genommen, sondern wie ein Hans Peter Haselsteiner aus dem Hintergrund heraus agiert, um jüngere, agilere Gesinnungsgenossen bei einer guten Sache zu unterstützen, so wären dem Austro-Kanadier die Herzen wohl mehr zugeflogen. Und ja, es wäre mir recht gewesen, wenn er im Laufe des Jahres 2012 erkannt hätte, dass NEOS ein in gewissen Punkten ähnliches, aber breiter von der Bevölkerung tragfähiges Programm hat und es sich auch zum Erreichen seiner Ziele lohnt, sich hinter diese Bürgerbewegung zu stellen – wenn diese seine Ziele denn mehr altruistischer als egoistischer Natur waren. In der sonntagabendlichen Runde der Spitzenkandidaten machte Franz Strohsack auf mich erneut den Eindruck, dass er keine Ahnung hat, wofür die anderen Parteien stehen.
Der Liberalismus als politische Gesinnung stellt das Individuum ins Zentrum seiner Überlegungen, und zwar das Individuum als Subjekt maximaler Freiheit vom Staat. Frank Stronach stellt ebenfalls das Individuum ins Zentrum seiner Überlegungen, allerdings kreisen diese in letzter Instanz mehr um ihn selbst. Wie die Berichterstattung zeigt, zerbröckelt die Liste FRANK bereits, Köpfe rollen, alte Vertraute aus dem Magna Konzern werden an Schaltstellen gesetzt. Eine demokratische Bewegung die ausschließlich von oben herab anstatt ebenso von unten hinauf gesteuert wird, und dies bereits in den Kinderschuhen, wird das Gehen nie lernen. Es ist Schade um ihn als Ressource für Österreichs Zukunft, und es tut mir in gewisser Weise leid für ihn persönlich, da ich als Auslandsösterreicher glaube, dass jeder Mensch, dessen Leben sich dem Ende zuneigt, sich automatisch seiner Heimat verbundener fühlt und dort nach Akzeptanz und Geborgenheit sucht.
Die grüne Bewegung
Die GRÜNEN können vor allem durch einen überproportionalen Anteil an Wahlkartenstimmen 1,9% zulegen und erzielen mit 12,3% ihr historisch bestes und im internationalen Vergleich beachtliches Ergebnis. Dennoch bleiben sie hinter den Erwartungen vieler Parteigänger. Der Mangel an wirtschaftlicher Kompetenz wird nach dem Ende der Parteiführung unter Prof. Van der Bellen als wesentlicher Grund dafür gesehen. Eine umweltpolitisch zukunftsorientierte Politik ist im dritten Jahrtausend Teil eines jeden Parteiprogrammes – wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung - geworden, somit fällt es den Grünen zunehmend schwerer sich zu differenzieren und zu wachsen. Wirtschaftspolitisch wirken die Grünen teilweise reaktionär und machen den Eindruck als hätten sie sich nach fast zwei Dekaden im Parlament sehr an die Großparteien angenähert. Es fehlt an Führungsfähigkeit, da die Identität der Oppositionspartei derart in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass Eva Galwischnig bei der Spitzenkandidatenrunde am Wahlabend a priori eine Regierungsbeteiligung ausgeschlossen hat.
Damit nicht der Verdacht aufkommt, dass ich an den GRÜNEN nicht Gefallen finde: ich war in der Vergangenheit unter anderem GRÜN-Wähler. Eine umweltpolitische Grundausrichtung gepaart mit volkswirtschaftlicher Kompetenz, welche mir Alexander Van der Bellen vermitteln konnte, hat mich für eine Zeit lang ungemein begeistert. Aber in gewisser Weise hat jede Farbe ihre Zeit, sowohl für eine Gesellschaft in ihrer historischen Entwicklung wie auch für ein Individuum in der persönlichen. Wird nicht dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Francois Mitterand (und vielen anderen) folgender Satz zugeschrieben? Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz, und wer mit 40 nicht rechts ist, hat kein Hirn. Die GRÜNEN haben sowohl ihren gesellschaftlichen wie auch aus meiner Perspektive, individuellen Klimax hinter sich.
Der Economist beschrieb vor wenigen Monaten die katastrophalen Umweltbedingungen Chinas in einem Artikel der The East is Grey titelte. Darin fasste der Autor die gesellschaftlichen Brennpunkte zusammen, die in verschiedenen Ländern zu einem umweltpolitischen Umdenken führten. In China dürfte dies der Jänner 2013 gewesen sein, als man in Beijing für mehrere Wochen stark gesundheitsgefährdende – lies: toxic, far more toxic than usual - Feinstaubbelastungen messen musste. In den USA war dies 1969, als der Cuyahoga Fluss in Ohio schwer verschmutzt und ökologisch tot Feuer fing. Die amerikanische Umweltschutzbehörde (EPA) wurde im Jahr darauf gegründet. In Japan führten schwere Quecksilber Vergiftungen ab Mitte der 50er Jahre in der Region Minamata in den 70er Jahren zu strengen Umweltschutzgesetzen. Der Fukushima Reaktor Unfall führte in Deutschland zum Ausstieg aus der Atomenergie und in Japan selbst zu einem atemberaubenden Wachstum der Photovoltaik Anwendungen. So hat jede Gesellschaft ihre Wendepunkte bezüglich ihres umweltpolitischen Gewissens. Nicht in allen wird aufgrund derartiger Vorfälle eine Partei gegründet. In Österreich führten die Proteste gegen das AKW Zwentendorf und gegen das Donaukraftwerk Hainburg zu einem gesellschaftspolitisch seltenen Ereignis, nämlich zur Geburt der GRÜNEN.
Betrachtet man diese Entwicklungen in westlichen Industrienationen, so kommt man zum Schluss, dass die Wahlgänger der GRÜNEN Kinder einer spezifischen Zeit sind. Es sind Menschen, die gegen das Establishment dachten und teilweise agierten, Menschen die in den 70er und 80er Jahren ihrer damals unkonventionellen Lebenssichtweise einen politischen Ausdruck geben wollten, Menschen, die auf den Wogen der 68er Revolution ritten und diese Ereignisse durch eine neue Partei repräsentiert sehen wollten. Man denke an GRÜNE Gallionsfiguren wie Daniel le rouge Cohn-Bendit, die diese zu einem breiten Phänomen gewordene Bewegung personifizierten.
Am Beispiel der GRÜNEN politischen Bewegung ist zu erkennen, dass spezielle gesellschaftliche Umstände, Veränderungen ökonomischer oder sozialer Natur zur Bildung neuer politischer Gruppierungen führen können. Sehen wir uns diese vorangegangenen Veränderungen der österreichischen Gesellschaft noch anhand der drei größten Parteien an, und stellen wir uns gleichzeitig die Frage, welche Veränderungen dafür verantwortlich sind, dass NEOS ins Parlament eingezogen ist.
Die deutschnationale Bewegung. Das dritte Lager
Die freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ist als direkter demokratischer Nachfolger der NSDAP zu betrachten. Offiziell bezeichnet sie sich als Vertreterin des „Dritten Lagers“ und sieht sich selbst im Erbe des nationalliberalen Gedankenguts der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848. Bindeglied zwischen NSDAP und FPÖ war die VdU, der Verband der Unabhängigen, welcher sich als politische Vertretung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, Heimatvertriebener und Heimkehrer sah, 1949 gegründet wurde und bis 1956 zur Gründung der FPÖ im Nationalrat vertreten war. Es verwundert mich in der Tat, daß ich diesen Umstand bis dato nie in jedwelcher öffentlichen Diskussion angesprochen gefunden habe. Weder während dieses Wahlkampfes, noch jemals davor, wurde von den politischen Gegnern der FPÖ eine klare, medial unterstützte Aufklärungskampagne gefahren, die den (potentiellen) Wählern zeigt, dass sie mit ihrer Stimme quasi die Erben Hitlers an die Macht hieven. Dies mag übertrieben klingen, und man mag es als weithergeholt betrachten, einen angepassten Politpopstar wie Hans Christian Strache mit einem Massenmörder und Demagogen wie Adolf Hitler zu vergleichen. Beide arbeiten bzw arbeiteten jedoch mit denselben politischen Mitteln: Angst und Ausgrenzung.
Die Ursprünge der FPÖ liegen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und entwickelten sich aus diversen völkischen Vorläufergruppierungen der wilhelminischen Ära im deutschen Kaiserreich und in Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es ab 1919/20 zu einer eigenständigen politischen Bewegung im deutschsprachigen Raum, die sich neben marginalen Details von ideologisch ähnlichen Bewegungen wie dem in Italien 1922 zur Macht gelangten Faschismus vor allem durch eine extreme Judenfeindlichkeit unterscheidet. Der Nationalsozialismus als ideologischer Klimax des dritten Lagers im Verständnis der FPÖ ist eine radikal antisemitische, rassistische, antikommunistische und antidemokratische Weltanschauung, die in Deutschland im Jahr 1933 zur Herrschaft gelangte und die demokratische Weimarer Republik in einen totalitären Führerstaat umwandelte. Im Dunstkreis dieses Erbes agiert die FPÖ, weswegen auch für die Jugend, welche zu hohen Prozentsätzen Strache wählt, klar sein müsste, dass dieser nicht cool ist. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.
Unter Jörg Haider durchging die FPÖ weniger eine ideologische als eine marketing-technische Kundensegment Neuausrichtung, durch welche bewusst Wähler mit den Thematiken Deutschösterreicher vs. Immigranten und soziale Gerechtigkeit – insbesondere an das Arbeitermilieu adressiert - angesprochen wurden. Die FPÖ setzte sich unter Jörg Haider somit genau zwischen das bürgerlich-konservative Lager der ÖVP und das sozialdemokratische Arbeiterlager der SPÖ und grub beiden Großfraktionen soweit Stimmen ab, dass die FPÖ zur dritten entscheidenden Partei wurde. Eines änderte sich jedoch an der Politik eines Jörg Haiders, sowohl in der FPÖ wie auch im BZÖ nie: all seine Politik war immer destruktiver Natur. Darüberhinaus kann man nun auch in vielen Publikationen nachlesen wie sehr dieser intelligente Mensch, der an meiner alma mater einst zeitgleich mit Josef Cap Universitätsassistent für Verfassungsrecht war, die Öffentlichkeit und seine Wählerschaft in die Irre führte und gesellschaftlich akzeptierte Stereotype nach außen vorzeigte, während er in Wahrheit seinen eigenen Lüsten und Sehnsüchten aufs innigste frönte. Mir ist ein offenkundig sich zur Homosexualität bekennender Politiker von Grund auf sympathischer als einer, der diese verdeckt lebt. Haider war zu klug, um zu wissen, dass er als Schwuler im konservativen Kärnten niemals zum Landesvater aufsteigen würde können. So hielt er seine Scheinehe samt Kindern aufrecht und gab dem Volk das Bild, welches erwartet wurde. Leider setzte sich diese Doppelmoral in allen Bereichen seines politischen Lebens fort: Nepotismus, Korruption, absolutistische Landesfürstenagitation anstattt von Meritokratie, Transparenz und direkter Demokratie. Dieses Haider Vermächtnis lastet auf allen politischen Nachkommen Haiders, sowohl der FPÖ wie auch dem BZÖ als Erbschuld. Josef Buchner versuchte diese nicht erfolgreich abzuschütteln.
Zwei Erinnerungen, beide jener einprägenden Gänsehautnatur, verbinde ich mit der FPÖ. Die eine stammt aus den frühen 90er Jahren, als ich als Gymnasiast in Linz weilte und in einer Wahlkampfperiode mit Schulkollegen, wie jedes Jahr den Urfahraner Jahrmarkt aufsuchte. Ohne dies zu wissen, stolperte ich in eines der Jahrmarkt Bierzelte, in welchem Haider auf der Bühne stehend eine völkische Hetzrede hielt. Mir ist dieses Begebnis wohl deswegen so klar in Erinnerung, weil ich am Wochenende zuvor eine Fernsehdiskussion mit Jörg Haider gesehen hatte, in welcher er seine Argumente mit intellektuell scharfer Klinge kommunizierte, in diesem Jahrmarktzelt aber plötzlich wie ein ausgewechselter Mensch xenophobe Diktion zum Besten gab. Ein Schauer lief damals über meinen Rücken, wie auch zu jener Begebenheit, die sich im Jahr 2008 zugetragen haben muss, als ich mit meiner Frau eine Herbstwanderung im Wiener Wald unternahm. Wir kamen beim Cobenzl Schlössl zu einer herrlichen Sonnenuntergangsstimmung an und dessen nicht gewahr, erkannten durch ein dort loderndes Feuer, dass wir für unsere Wanderung offensichtlich den Herbstsonnenwendtag auserkoren hatten. Nachdem die Pforten zum Schlössl weit offen standen, gingen wir bedenkenlos in das Innere des Gemäuers und kamen am unteren Ende des um das große Feuer formierten Halbkreises zu stehen. Ich kann mich noch erinnern, dass meine urgemütliche Stimmung von „tralala-Spätsommer-wie-schön-da-ist-ein-Sonnwendfeuer“ schlagartig in „huch-was-geht-hier-ab?“ umschlug. In solche Momenten, in denen man Gesamtsituationen wahrnimmt und versucht diese rasch zu deuten, mag viel Einbildung sein, aber ich konnte klar HC Strache umringt von etlichen Burschenschafter mit ihren typischen Kappen und Brustschärpen ausmachen. Die Blicke drehten sich in unsere Richtung und es war klar, das wir als nichtsahnendes Pärchen einen Fremdkörper in diesem Kreis bildeten, weswegen ich meiner Frau zuflüsterte „Komm lass uns schnell von hier verschwinden!“ Diese Wahrnehmung wurde prompt untermauert, als zwei junge Männer in Burschenschafts-Couleur Anlauf nahmen und über das Feuer springend „Heil Deutschland!“ riefen.
Ich verbrachte den Rückweg zu unserer – pikanterweise - am Türkenschanzpark gelegenen Wohnung damit, meiner aus der Mandschurei stammenden Frau zu erklären, dass diese deutschnationale Gesinnung mancher Landsleute wohl mit der geographisch exaltierten Lage Österreichs in der Grenzregion zwischen germanischen, romanischen, ost- und südslawischen Völkern sowie mit dem Versäumnis der österreichischen Politik in den 80er Jahren zusammenhängt, als man die Sprache des jeweiligen Nachbarlandes zum Pflichtgegenstand im Schulcurriculum machen hätte sollen. In Österreich war man immer schon dem Fremden mehr als anderswo in Europa ausgesetzt, zum Beispiel während der beiden Türkenbelagerungen Wiens, und konnte daher auf die resultierende Angst sogar Parteien bauen – jedoch keine konstruktiven, die nachhaltig am Wohlergehen unserer Gesellschaft arbeiten.
Die christlich-soziale-konservative Bewegung. Das zweite Lager
Sieht man also die historisch-gesellschaftlichen Wurzeln des deutschnationalen und selbsternannten dritten Lagers in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich in Zentraleuropa neben der europäischen Nationalstaatenbildung, insbesondere der bis 1861 zersplitterten deutschen Zwergfürstentümer unter dem Ausschluss Österreichs zum Deutschen Bund, dem Zerfall des österreichischen Vielvölkerstaates und der dem ersten Weltkrieg folgenden Identitätskrise der übriggebliebenen Deutschösterreicher, so müssen auch die Wurzeln weiterer politischer Gruppierung in dieser Zeit gesucht werden. Die christlich-konservative Partei als Vorläufer der ÖVP formierte sich in Österreich in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts als durchaus kleinbürgerliche Bewegung. Stefan Zweig schreibt in „Die Welt von Gestern“:
Sie war eigentlich nur die organische Gegenbewegung der proletarischen und im Grunde ebenso wie sie ein Produkt des Sieges der Maschine über die Hand. Denn, indem die Maschine durch die Zusammenfassung großer Massen in den Fabriken den Arbeitern Macht und sozialen Aufstieg zuteilte, bedrohte sie gleichzeitig das kleine Handwerk. Die großen Warenhäuser, die Massenproduktionen wurden für den Mittelstand und für die kleinen Meister mit ihren Handbetrieben zum Ruin. Dieser Unzufriedenheit und Sorge bemächtigte sich ein geschickter und populärer Führer, Dr. Karl Lueger, und riß mit dem Schlagwort „Dem kleinen Manne muß geholfen werden“ das ganze Kleinbürgertum und den verärgerten Mittelstand an sich, dessen Neid gegen die Wohlhabenden bedeutend geringer war als die Furcht, aus seiner Bürgerlichkeit in das Proletariat abzusinken. Es war genau die gleiche verängstigte Schicht, wie sie später Adolf Hitler als erste breite Masse um sich gesammelt hat, und Karl Lueger ist auch in einem anderen Sinne sein Vorbild gewesen, indem er ihn die Handlichkeit der antisemitischen Parole lehrte, die den unzufriedenen Kleinbürgerkreisen einen Gegner optisch zeigte und anderseits zugleich den Haß von den Großgrundbesitzern und dem feudalen Reichtum unmerklich ablenkte.
In der ÖVP ist somit das zweite Lager der österreichischen Politik festzumachen, welches sich aus dem Kleinbürgertum, dem Mittelstand und dem Bauerntum zusammensetzt. Vor allem hinsichtlich des Bauerntums ist anzumerken, dass dieses als jenes auszumachen ist, welches über Grundbesitz verfügt und sich somit von den Landlosen, die sich in die Städte und in die Erwerbstätigkeit im zweiten Sektor flüchteten, unterscheidet. Der Aspekt der Funktionalisierung der christlich-sozialen Bewegung, um vom Treiben des konservativen Großbürgertums sowie der in die Industrie eingestiegenen Aristokratie abzulenken, ist der ÖVP bis heute anheimgeblieben. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang mit den jüngsten Skandalen um Maria Rauch-Kallats Ehemann Graf Albert Mensdorff-Pouilly.
Es muss richtigerweise festgestellt werden, dass sich die Christdemokraten seit ihrer Gründung unter Karl Lueger nicht klar vom dritten Lager differenzieren konnten. Aspekte des Antisemitismus, und somit eines Einigungsmotivs iSd Ausgrenzung anderer, waren bis 1945 tief in der Partei verankert und selbst wenn sich die ÖVP nach 1945 in ihren Prinzipien vom Nationalsozialismus distanzierte, gelang ihr die Einhaltung dieser Distanz auch in der neueren Geschichte nicht immer. Laut Gründungsprogramm 1945 solld die ÖVP eine breite bürgerliche Volkspartei sein, die Christliche Soziallehre, Konservatismus und Liberalismus in sich vereint und sich zur Vorgängerpartei, der Christlichsozialen Partei, durch das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und zur österreichischen Nation unterscheidet.[iv]
Die österreichische Sozialdemokratie. Das erste Lager
Nur wenige Jahre vor der weißen Nelke, welche sich die christlich-soziale Bewegung als Erkennungszeichen ausgemacht hatte, war die erste politische Massenbewegung mit einer roten Nelke als Parteizeichen in Erscheinung getreten. Für die Formierung jener Partei, die Österreich zumindest in der zweiten Republik geprägt hat wie keine andere, lasse ich nochmals Stefan Zweig sprechen, der in seiner zeitgeschichtlichen und teilweise autobiographischen Erzählung „Die Welt von Gestern“ die wesentlichen Ereignisse vom Zerfall der Donaumonarchie bis zum Nazi-Großdeutschland unübertroffen präzise festhält:
Eine merkwürdige Umschichtung begann sich in unserem alten, schläfrigen Österreich vorzubereiten. Die Massen, die stillschweigend und gefügig der liberalen Bürgerschaft durch Jahrzehnte die Herrschaft gelassen, wurden plötzlich unruhig, organisierten sich und verlangten ihr eigenes Recht. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.
Die erste dieser großen Massenbewegungen in Österreich war die sozialistische. Bisher war bei uns das fälschlich so benannte allgemeine Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, daß sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des Volkes wären. Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildet zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und eine gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank ihrem liberalistischen Glauben an eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl aller Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen vergessen, daß sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausenden und Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan und um die Industrie die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen, das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum dass es gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konsilianz, Interessen stießen jetzt hart gegen die Interessen, es begann ein Kampf.
Im k.k. Österreich führten die verspätete Modernisierung und die Konzentration der Industrie im deutschösterreichisch-böhmischen Raum zu einer kompakten Arbeiterbewegung mit straffer Organisationsstruktur und dem Übergewicht der zentralen Führungsfigur Victor Adler. Er überwand, obwohl er als Intellektueller und wegen seiner bürgerlichen Herkunft anfangs als Außenseiter betrachtet wurde, die Richtungskämpfe der frühen Arbeiterorganisationen und bündelte diese in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SPÖ). Eine Veränderung der Gesellschaft von kolossalem Ausmaß legte den Grundstein für dieses politische Erdbeben: die Industrialisierung Österreichs und somit die Möglichkeit die zu Industriearbeiter gewordenen Landarbeiter, Knechte, Mägde, Tagelöhner in einer neuen Organisationsstruktur anzusprechen: der Gewerkschaft, welche auch heute noch das Rückgrat der SPÖ bildet. Diese massive Verschiebung der erwerbstätigen Bevölkerung vom primären Sektor in den sekundären Sektor dürfte Victor Adler frühzeitig erkannt haben. Fraglich ist, ob er die gesellschaftlich umwälzenden Auswirkungen in diesem Ausmaß vorhergesehen hat. Retrospektiv betrachtet steht allerdings fest, dass neue Technologien zu diesem Meilenstein der österreichischen und europäischen Gesellschaftsentwicklung geführt haben.
Die Geburt eines neuen Lagers durch die digitale Revolution?
Applizieren wir dieses Thema der umwälzenden Wirkung neuer Technologien auf die Jetztzeit, so ist zu den Ereignissen des späten 19. Jahrhunderts eine Analogie zu ziehen. Das digitale Zeitalter hat das menschliche Zusammenleben verändert wie nichts anderes in den vergangenen 100 Jahren. Wir kommunizieren anders, wir konsumieren anders, wir leben anders als wir dies noch vor 15 Jahren getan haben. Nichts ist also naheliegender als anzunehmen, dass diese veränderten Realbedingungen ähnlich wie das Entstehen des sekundären Erwerbssektors im 19. Jahrhundert zu einer politischen Umwälzung führen. An diesem Punkt meine zentrale Frage: Befinden wir uns an einem ähnlichen Meilenstein wie in den 1880er Jahren und hat NEOS das Potential zu einer politischen Bewegung wie damals die SPÖ zu avancieren?
Zwei Gedanken dazu. Wähler wählen mehr mit dem Bauch als mit dem Hirn. Ein Artikel, welchen ich kurz vor den Wahlen las, klärte mich auf, dass unser Wahlverhalten bereits in den frühen Lebensjahren festgelegt wird. Eher angstbetonte Menschen wählen christlich-konservativ (diese Werte stehen stellvertretend für alle Parteien rechts der Mitte), eher lebensbejahende Menschen sozialdemokratisch-integrativ (diese Werte stehen für alle Bewegungen links der Mitte). Grund dafür sind einschneidende Prägungen in der frühen Kindheit, die nur selten ausgehebelt werden können. Insofern ist die klassische Spaltung des rechten, konservativen Lagers und des linken, sozialdemokratischen Lagers eine Spaltung, die quasi in unserer Natur liegt und uns das Kreuz in der Wahlkabine quasi aus dem Bauch heraus machen lassen.
Der Liberalismus. Das Lager Null
Das Lager Null im Sinne einer liberalen Gesinnung – denn schließlich ist sie in ihrer philosophischen Entstehungsgeschichte die älteste der politischen Bewegungen, wenngleich sie nie eine Massenbewegung war - erfordert jedoch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Zweck der Politik und der Essenz des Staates im Widerspiel mit dem Individuum. Das Kreuz für eine liberale Partei wird selten aus dem Bauch heraus, sondern meist als Kopfentscheidung kommen. Nicht umsonst haben auch im Vorfeld der österreichischen Nationalratswahl Politologen das maximale Wählerspektrum für liberale Bewegungen auf 15 maximal 20% eingegrenzt. Liberale können sich weder auf Blut und Scholle, auf Kreuz und Christus, noch auf Schweiß, Kohle und Stahl berufen. Liberale Bewegungen wie NEOS müssen ihre Wähler aus dem wachsenden tertiären Erwerbsektor rekrutieren, wo gemeinsame „bauchbetonte“ Nenner fehlen.
Der gemeinsame Nenner der liberalen Bewegung des Großbürgertums den 19. Jahrhundert war die eigene stetig steigende wirtschaftliche Macht auch politisch repräsentiert zu sehen. Mit dem Ende des Absolutismus und der Autokratie eines Monarchen war im Liberalismus dieser Zeit eigentlich eine Oligarchie der wenigen Vermögenden entstanden. Inwieweit jener integrative Liberalismus, der dennoch die Massen geknechtet hielt mit den Werten einer liberalen Partei der Jetztzeit noch überschneidende Mengen finden kann bzw soll, sei dahingestellt.
NEOS – ein fünftes Lager?
Die große Herausforderung für Matthias Strolz und sein Team ist daher – sofern sich NEOS von einer Randgruppe in eine politische Macht verändern will - dieses Vakuum zu füllen. Eine synkretistische Partei, als welche ich NEOS wahrnehme, steht damit vor einer ähnlichen Aufgabe wie ein evangelikaler Pfarrer, der Yoga mit Jesus anbietet um seine Schäfchen vom Austritt abzuhalten oder zum Eintritt zu bewegen: im vielfältigen Angebot den Kunden bleibend zu interessieren. Ich empfehle hierzu passend die wunderbare Komödie Keeping the Faith, in welcher Ben Stiller als junger Rabbi und Edward Norten als junger Priester nicht nur in einer menage a trois verwickelt sind, sondern ihre trägen Glaubensgemeinschaften durch einen frischen Wind aufwecken.
Es gibt nur eine Konstante in unserem Leben: Veränderung. Diese ist auch innerhalb bestehender Systeme einer staatlichen oder religiösen Organisation friedlich möglich.[v] Sieht man in den GRÜNEN das vierte Lager der österreichischen politischen Landschaft, so will ich in NEOS lieber ein fünftes synkretistisches Lager, denn das wiedergeborene liberale Lager Null sehen. Die Zusammensetzung der Gegenwartmitgliedschaft von NEOS läßt allerdings richtigerweise darauf schließen, dass NEOS derzeit eine Fortsetzung der großbürgerlichen lieberalen Bewegung ist. Ärzte, Anwälte, Manager und Unternehmer, jene Personen aus denen sich NEOS sichtlich zusammensetzt, sind eine Bildungselite, die sehr an jene von Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ beschriebene liberalistische Schicht der fünfzigtausend oder hundertausend Wohlsituierten in den Städten der ausklingenden Donaumonarchie ähnelt. NEOS will aber inhaltlich Themen vorantreiben, die nicht nur die Interessen dieser elitären Schicht ansprechen, ganz im Gegenteil geht es um die Interessen der breiten Bevölkerung. Damit diese sich hinter NEOS stellt und bedarf es eines gemeinsamen, bauchbetonten Nenners, der stärker ist als die Angst und die Deutschtümmelei der FPÖ. In der Sehnsucht nach einer konstruktiven Kraft, die dem ganzen Volk ehrliche Hoffnung gibt und dieses Vertrauen in Taten umsetzt, kann ein derartiger gemeinsamer Nenner gefunden werden, und es bleibt abzuwarten, ob NEOS den Schritt ins fünfte Lager erfolgreich vollzieht.
[i] http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_wahlen/Mandatsspiegel_NRW_2013_4_Tag_nach_Wahltag_Wahlkarten_Vorl.pdf
[ii] http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalratswahl_in_%C3%96sterreich_2013
[iii] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich#Religion
[iv] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Volkspartei