180415_book_review_bildung_als_provokation.pdf |
KPL startet mit einer etwas zynischen Analyse, dass die Bildung in postmodernen, atheistischen Gesellschaften die Rolle einer Religion eingenommen hat und alle Heilsversprechen in sich vereinigt. Dieser Analyse ist beizupflichten und nichts Wesentliches hinzuzufügen, außer vielleicht, dass die Ursache dieser Rollenveränderung im Wettbewerbskapitalismus sogenannter knowledge economies zu suchen ist, und möglicherweise nicht die Bildung Religion, sondern wie etwa der Historiker Harari meint, der Kapitalismus an sich zur Religion, und die Bildung zu einem seiner Rituale geworden ist.
Hier tut sich aber bereits im ersten Kapitel ein Manko im tractatus philosophicus auf, welches sich durch die gesamte Abhandlung wie ein roter Faden zieht. KPL ist auf dem Gebiet der Volkswirtschaft zumindest in diesem Buch nicht einmal oberflächlich bewandert und verabsäumt so einen wichtigen Aspekt in den Diskurs um den Stellenwert und den Zweck von Bildung innerhalb einer Gesellschaft einzubringen.
Allerdings erhellt der Autor andere wesentliche Aspekte und eröffnet eine wichtige Diskussion mit der Frage, ob und inwiefern ein Mensch sich selbst durch Bildung verändern kann. Diese Frage erörtert KPL umfassend: Dem Begriff Selbstveränderung können drei Bedeutungen unterstellt werden.
- Zum Ersten: ich bin es, der sich in seinem Identitätsgefühl verändert, und dies aus freien Stücken: man könnte hier von einer Selbstbildungsautonomie sprechen.
- Zweitens: Es ist mein Selbst, das durch Bildung verändert wird; dies setzt ein substanzielles Selbst voraus, das durch eine aktivierende und kontrollierende Ich-Instanz verändert werden kann: Bildung als Selbstsuche und Selbstverwirklichung.
- Und drittens: Ich muss nicht nur mich oder mein Selbst, ich muss mein Leben schlechthin ändern. Man könnte dies das Rilke-Sloterdijksche Anforderungsprofil nennen, das die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines radikalen Schnitts in einer Lebensführung supponiert: Bildung als Zäsur.
Ich habe anschließenden Diskurs genossen, da KPL diesen mit seiner eigenen Bildung äußerst lesenswert macht, jedoch fehlen mir gerade wenn es um das Verständnis bzw die Existenz des Selbst geht, psychologische und neurologische Erkenntnisse der letzten 20 Jahre. Jüngste Erkenntnisse der Bewusstseinsforschung sowie der epistemologischen Neurologie können nicht rein durch philosophische Debatten aus den vergangenen Jahrhunderten ersetzt werden.
Als Weltbürger widerstrebt es mir zudem zutiefst, dass KPL sich für einen europäischen Bildungskanon einsetzt. Er gibt somit Preis, dass er einer jener Denker ist, die zwar ihren Tellerrand schon über die eigene Herkunftsgesellschaft hinaus erweitert haben, sich aber noch nicht zu einem Kosmopolitismus hinreißen lassen können. Der Grund für diese in Europa weit verbreitete Ansicht mag in der durch dort lebende Zeitgenossen empfundenen Porosität der europäischen Idee und Identität zu finden sein.
Erst vor ein paar Monaten las ich einen Leitartikel des Chefredakteurs des Münchner Philosophie Magazins Hohe Luft. Thomas Vasek setzte sich darin eloquent für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein; allerdings suchte er darin eine Erfrischungskur für die Idee eines gemeinsamen Europas, ähnlich wie Liessmann in einem normativen Bildungskanon für die Stärkung und Wiederbelebung dieses Konstruktes eintritt.
Wenn man so wie ich weit weg von der Herkunftsgesellschaft in einer komplett fremden Kultur lebt, relativiert sich der Begriff fremd noch einmal und irgendwann bleibt dann nur noch dieser Planet als Heimat und Identität wird zu einem Konzept permanenter teleologischer Veränderung. Im Sinne der Logotherapie Viktor Frankls bin ich zu Hause, wo ich Sinn sehe und die Verantwortung übernehme, diesen Sinn zu erfüllen.
Richtig, diese individuelle Sinnentfaltung alleine stiftet kein gemeinsames Kulturgut. Allerdings muß jeder ausgeschlafene Bürger erkennen, dass angesichts der von tausenden Wissenschaftlern angekündigten sechsten Massenvernichtung ein gemeinsamer, normativer Bildungskanon zweckgerichtet im Erlernen von Überlebensstratgien, maßvollem Konsum, respektvollem Umgang mit Ressourcen, usw. liegen muss, nicht jedoch primär im Rezitieren von Goethe, Hugo und Dante liegen kann. Wenn es quasi ums Überleben geht, darf hier ohne weiter begründen zu müssen von einem Bildungskanon der Pflicht und einem der Kür ausgegangen werden.
Entzückt haben mich im zweiten Teil dieses Buches KPLs Ausführungen zum Wert der Hände und sein klarer Respekt für die Arbeit dieser. Goethes Vers aus Faust II „Das sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände“ hat er zwar meiner Ansicht nach nicht nur bei seiner Reifeprüfung falsch interpretiert, aber dennoch richtig erkannt, dass in der Evolution des Menschen die Hand eine herausragende Rolle spielt. Der aufrechte Gang ermöglichte die Entwicklung der vorderen Gliedmaßen zu einer Greifhand, die nun vielfältige Aufgaben übernehmen konnte.
Leider setzt sich KPL nicht wie ich es erwartet hätte für duale Ausbildungen ein, die sowohl die Handarbeit wie auch die intellektuelle Arbeit schulen und durch diese Dualität beide Fähigkeiten zu neuen Höhen leiten können, und das obwohl er den Anthropologen Leroi-Gourhan zitiert: Es wäre nicht sonderlich wichtig, dass die Bedeutung der Hand, dieses Schicksalorgans, abnimmt, wenn nicht alles darauf hindeutete, dass ihre Tätigkeit eng mit dem Gleichgewicht der Hirnregionen verbunden ist, die mi ihr im Zusammenhang stehen. Mit seinen Händen nicht denken können, bedeutet einen Teil seines normalen und phylogenetischen menschlichen Denkens zu verlieren.
KPL bleibt stattdessen bei der Betonung der humanistischen Literatur als wesentlichem Vehikel zur Bildung und somit Selbstveränderung. Somit propagiert er jenes Bildungssystem welches ihm am nächsten steht und in welchem er selbst überdurchschnittlich reüssierten konnte. Was ist jedoch mit den unzähligen Lerntypen, die auch in einem solchen – gutgemeinten – normativen Humanismus über einen Kamm geschoren werden und dabei ihre Talente nicht entfalten können?
Ich entsinne mich an einen Schulkollegen, der acht Jahre in unserem Gymnasium unter allen Sprachen, insbesondere dem Deutschen litt, trotz aller Widrigkeiten seine Reifeprüfung ablegen konnte und weitere acht Jahre später eine postdoc Forschungsstelle an der ETH Zürich in Bioinformatik antreten konnte. Weder Homer, noch Seneca, weder Kant noch Rilke haben diesen Kollegen jemals angesprochen und ich bezweifle, dass Selbstveränderung für ihn durch einen normativen humanistischen Bildungskanon weniger schadhaft gewesen ist, als der chinesischen STEM Fokus für einen jungen Liessmann gewesen wäre.
Im letzten Teil verliert KPL den bildungsinteressierten Leser und gleitet in die Niederungen der Politik ab ohne wirklich das Thema Bildung substanziell weiter zu behandeln. Man hat fast das Gefühl als ob 70 weitere Seiten vom Verleger gefordert waren, um eine verlegenswerte Manuskriptlänge zu erreichen. Es mag auch sein, dass der Titel Bildung als Provokation sich weniger auf einen allgemeinen Bildungskanon bezieht als auf die persönliche Bildung des Autors, der sich am Ende seiner Karriere nochmal gegen die Politik auflehnt und an seine eigene Jugend des Wiener Aktionismus nostalgisch anschließt.
Gerade eben auf den letzten beiden Seiten kratzt KPL die Kurve und fängt den Titel wieder ein, indem er eine in der Tat im wiederaufstrebenden Nationalismus des 21. Jahrhunderts passende Bemerkung aus dem 18. Jahrhundert einbringt: Eine gebildete Nation kennt in sich keine andere Gefahr, als das Übermaß ihrer Nationalglückseligkeit. Liessmann schließt indem er die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung bejaht, leider aber keine nachvollziehbaren Inhalte anbietet. Nichtsdestotrotz, ein lesenswertes Büchlein, und wenn auch nur, um sich daran so zu reiben wie ich selbst.