Weltweit leiden die Menschen, insbesondere junge Menschen, unter einem Sinnlosigkeitsgefühl. Sie besitzen die Lebensmittel, die Mittel zum Leben, aber sie entbehren einen Lebenszweck, auf den hin zu leben, weiterzuleben, es sich auch dafürstünde. John Glenn, der amerikanische Astronaut der ersten Stunde, hat einmal gesagt: Ideals are the very stuff of survival. Ohne die Ausrichtung auf Ideale kann der Mensch, kann die Menschheit nicht überleben; aber das schafft eben Spannung, man muss kämpfen können, man muss warten können, mit einem Wort, es bedarf der so genannten Frustrationstoleranz, und die muss man trainiert haben.
Aber die vorwiegend um eine Minimierung von Spannung besorgte Erziehung von heute erzieht einen nachgerade zu einer Frustrations-Intoleranz, einer Art psychischer Immunschwäche, wenn ich so sagen darf. Die jungen Menschen sind dann unfähig, Frustrationen „wegzustecken“; sie sind unfähig, auf die Erfüllung ihrer Wünsche zu warten, sie sind unfähig, auf etwas das sie noch nicht haben, zu verzichten oder gar etwas, das sie bereits besitzen, zu opfern. In ihrer Frustrations-Intoleranz sind die jungen Menschen nicht mehr fähig, abwendbares Leid abzuwenden und unanwendbares Leid auszuhalten, geschweige denn, dass sie Mitleid aufbrächten für jemand anderen – Mitleid kennen sie nur für sich selbst.
Doch der Mensch weiß sich zu helfen – er hat es immer schon gewusst. Und es war der Dichter Hölderlin, der diesen Sachverhalt einmal in die schönen Worte gekleidet hat: Wo die Gefahr, dort wächst auch das Rettende. Und wie stellt es der Mensch an die Gefahr einer tendenziellen Verwöhnung und Verweichlichung zu bannen, die heraufbeschworen wird von einer technologisch perfektionierten Industriegesellschaft und einer auf totale Bedürfnisbefriedigung abgestellte Konsumgesellschaft?
Werfen wir doch einen Blick in den Alltag: Der Mensch von heute muss ja eigentlich gar nicht mehr gehen. Er setzt sich einfach in seinen Wagen und – fährt. Geschweige denn, dass er laufen müsste. Doch was geschieht? Er erfindet das Jogging. Oder: Der Mensch von heute braucht nicht zu steigen, nicht einmal Stiegen zu steigen. Und was geschieht? Er setzt sich in den Kopf, auf Berge zu steigen, auf Felswände zu klettern. Mit einem Wort, er – der nackte Affe – macht es seinen Urahnen nach, die auf Bäume klettern mussten, um sich Nahrung zu beschaffen oder vor Feinden zu flüchten – alles Dinge die für die Affen notwendig sind, aber längst nicht mehr für ihn.
Aber das ist es ja: Der biologisch unterforderte Mensch arrangiert sich freiwillig, künstlich und absichtlich Notwendigkeiten höherer Art, indem er aus freien Stücken von sich etwas fordert, sich etwas versagt, auf etwas verzichtet. Inmitten des Wohlstandes sorgt er für Situationen des Notstandes; mitten in einer Überflussgesellschaft beginnt er, sozusagen Inseln der Askese aufzuschütten – und genau darin sehe ich die Funktion, um nicht zu sagen die Mission, des Sports im Allgemeinen und des Alpinismus im Besonderen: Sie sind die moderne, säkulare Form der Askese.
Viktor E. Frankl in Bergerlebnis und Sinnerfahrung